Philipp Krebs (Komponist)
Do 01.02., 21:00 Uhr
Mi 31.01., 18:30 Uhr
Fr 02.02., 18:30 Uhr
Musikwissenschaftler Michael Zwenzner im Gespräch mit Komponist Philipp Krebs.
MZ: Man kann mit Brecht sagen, dass wir derzeit ja wieder einmal in ziemlich finsteren Zeiten leben. Und ich frage mich, wie du als Komponist damit umgehst, wie so dein persönlicher Krisenmodus aussieht, ob das dich in irgendeiner Weise auch künstlerisch beschäftigt oder ob du da vielleicht auch eher Abstand nimmst und ganz eigene Wege gehst.
PK: Ich glaube, die Antwort, die ist so ein bisschen zweigeteilt, denn einerseits ist es natürlich so, dass der Krisenmodus nun ja nichts Neues mehr ist. Also es beschäftigt uns jetzt schon seit fast vier Jahren, könnte man bald sagen. Und wenn man es auf das Persönliche bezieht, dann ist meinem Gefühl nach der Gipfel schon überschritten. Also das Tal war auf jeden Fall schon mal tiefer und es sah schon mal aussichtsloser aus, am Anfang der Pandemie vor ein paar Jahren, was das Schaffen betrifft. Und seitdem ist es ein bisschen so, dass ich da–um diesen alten Triggerbegriff zu benutzen, wir kennen jetzt alle das Wort Resilienz–dass ich da in der Auseinandersetzung mit der Welt ja einerseits so eine Art Schutzschicht aufgebaut habe, die aber auch durchlässig bleibt. Also mich beschäftigt das durchaus, was den ganzen Tag passiert, vor allem eben, weil es da in jeder Hinsicht viel um mediale Kommunikation geht. Also alles, was wir sehen, ist über Massenmedien transportiert, sei es jetzt ganz basal auf Nachrichtenebene oder eben irgendwie popkulturell verarbeitet. Und das ist der zweite Teil der Antwort. Andererseits dann, einmal von mir persönlich abgesehen, muss ich mich ja immer noch dazu im Kontext der Gesellschaft verhalten und kann mich da nicht rausnehmen. Also ich bin nicht der Meinung, dass mein künstlerisches Schaffen etwas Eskapistisches ist. Alles was täglich auf einen einprasselt, was passiert–es ist da, ich kann es nicht ausblenden.
MZ: Die nächste Frage schließt sich nun unmittelbar an, im Hinblick auf das Publikum: Inwiefern kann oder möge das, was du da in deiner Profession tust, komponierst, einem Publikum als Bereicherung oder gar als Ermutigung dienen? Oder was könnte das Publikum idealerweise mitnehmen aus den Aufführungen deiner Stücke? Würdest du dir darüber überhaupt Gedanken machen wollen? Oder wie siehst du das?
PK: Es ist natürlich immer schwierig, so vom Publikum aus zu denken. Gerade weil das ja in unserer Sparte ein Aspekt ist, dass wir nicht primär auf Verkaufbarkeit zielen müssen. Aber ich finde es immer schön, irgendwas anzubieten, mit dem ich nicht unbedingt die Leute dort abhole, wo sie stehen, sondern ihnen eher eine Hand reichen kann und vielleicht ein Angebot machen kann, sie mitzunehmen. Es wäre mir zu einfach zu sagen: Ich nähere mich jetzt dem Publikum so weit an, dass wir die Leute da abholen, wo sie sind, so als müsse also alles so ein bisschen heruntergebrochen werden, zeitgenössische Musik sei komplex, und es müsse irgendwie einfach sein. Ich glaube, das stimmt nicht. Wir sprechen immer von »dem Publikum« als so einer anonymen Masse, das ist ja auch schon eine Verallgemeinerung, aber wenn wir jetzt von dieser Begriffsdefinition einmal ausgehen, dann ist das »Publikum an sich«, glaube ich, viel aufgeschlossener, interessierter, begeisterter, als man manchmal denkt. Und deswegen ist es für mich immer wichtig, auch aus meiner persönlichen Erfahrung heraus, eine Art Angebot zu machen, dass man auch als Nichtprofi aus der zeitgenössischen Musik da irgendwie etwas erkennen kann, sei es eine Referenz oder etwas, das man vielleicht schon mal irgendwo aufgeschnappt hat. Und dann sage ich: Über diesen Strohhalm ziehe ich dich mit rein und bring dich dann auf meine Ebene.
MZ: Zudem teilen wir ja alle den selben existenziellen Erfahrungshintergrund und da entsteht ja sowieso schon Zusammenhang, den man jetzt nicht explizit nocheinmal künstlerisch hervortreiben muss. Das ist wahrscheinlich etwas, das beiläufig ohnehin passiert. Vielleicht gehen wir nun auf deine Stücke ein. Du hast ja zwei Stücke im Programm, Paramount und Vice. Und ich würde dich bitten, vielleicht in ganz knappen Worten wiederzugeben, was du auch sehr schön in den Programmhefttexten formuliert hast, und dabei vielleicht auch die Bezüge der Titel heranzuziehen, um zu zeigen, was dich da künstlerisch umgetrieben hat. Vielleicht zunächst mal bei Paramount, dem Ensemblestück, das du ja schon vor einigen Jahren komponiert hast.
PK: Also das steht etwas stellvertretend für meine Arbeitsweise, die ich so in den letzten 3 bis 4 Jahren in dem Bereich angegangen bin. Und zwar war es früher immer unglaublich schwierig für mich, wenn so eine Arbeit dann irgendwann fertig war, da einen Titel draufzusetzen. Was will ich, was soll das eigentlich jetzt? Muss man das irgendwie benennen? Wie heißt das? Und seit Paramount ist es eigentlich so, dass die Titel zuerst da sind und der Prozess andersherum läuft. Und ich bin eigentlich ein relativ großer Fan davon–das ist jetzt auch bei diesen zwei Stücken symptomatisch–Ein-Wort-Titel zu benutzen, bei denen die Begriffsdeutung auf Definitionsebene nicht eindeutig ist, sondern ergebnisoffen. Und wenn wir bei Paramount anfangen, dann wird das, so hoffe ich zumindest, relativ unterschiedlich sein, wenn man das Leuten vorsetzt, was sie damit assoziieren. Bei mir ging das am Anfang davon aus, dass das ja so was ist, das schon mal groß und irgendwie beeindruckend klingt. Und wenn man dafür die Definition nachschlägt, dann bedeutet es auch genau das, nämlich etwas, das über allem thront, was Prestige, was Qualität besitzt, was aber auch eine Fallhöhe gleichzeitig aufmacht. Also wenn ich auf dem Gipfel stehe, der in diesem Begriff impliziert wird, dann kann ich auch von wo herunterschauen, habe ein grandioses Panorama vor mir und es gibt eine Fallhöhe, die durchschritten wird. Das ist so die metaphorische, ja fast schon romantisierende Seite. Und andererseits, wenn man so ein bisschen popkulturell interessiert oder bewandert ist, ist natürlich das, was als erstes »klickt«, dass es der Name eines der großen Filmstudios ist, die in der Ära des Golden Age of Hollywood eine Rolle gespielt haben »Gespielt haben«, sage ich bewusst, weil dieses ganze Studiosystem, das wir aus dem Hollywoodkontext kennen, gleichzeitig auch eine sehr romantisierte Vorstellung ist, so à la »der Aufstieg zu den Stars«, was ja heute in dieser Form–in der romantisierten Vorstellung vielleicht nie–aber in der Form schon gar nicht mehr existiert. Das hat sich natürlich auch eingegliedert in die Produktionsmechanismen der kulturindustriellen Verwertungsmaschine und dieser Anstrich von Glanz und Glamour dieser Unterhaltungsmaschine ist über die Jahre abgeblättert. Und ich glaube, aus diesen zwei Richtungen, wenn man sich das als metaphorische Annäherung oder als Deutungsansatz für diesen Stücktitel [nimmt], dann ist man eigentlich schon auf einer relativ guten Fährte dessen, was mich da inspiriert hat, genau da hinein zu tauchen, und was sich letztendlich auf musikalischer Ebene in diesem Stück abbildet.
MZ: Bleiben wir bei Paramount. Was dir ja anscheinend sehr wichtig ist, ist ja die Sozialität der verschiedenen Arten des Zusammenspiels, also diese verschiedenen Konstellationen. Vielleicht kannst du zu diesen Setups oder diesen verschiedenen Konzeptionen ein paar Worte sagen, wie wie die Musiker sich zueinander verhalten während der Aufführung?
PK: Ja, also es ist ja ein relativ groß bis ausladend besetztes Stück, es sind maximal bis zu 20 Musikerinnen besetzt. Also wir haben schon mal einfach einen großen Ensembleapparat mit vielen solistisch besetzten Instrumenten auf der Bühne. Also quasi diese klassische Kammerorchesterbesetzung, wo jedes Instrument maximal–wenn überhaupt–zweimal vorkommt. Und ich glaube nur bei den Geigen und den Celli und dem Schlagzeug doppelt sich das. Und für mich ist es immer spannend zu sehen: Wie gehe ich denn mit so einer Auswahl an Instrumentarium um? Und ein Ansatz, den ich da gewählt habe, war es, zu sagen: Ich möchte eine Art von Mechanismus, eine Art von Konstruktion erreichen, wo sich erst mal niemand als Solist hervortut. Das war die erste Idee: Wie kann ich jeder Person, die da mitwirkt, irgendwie prozentual einen Anteil an dieser ganzen Geschichte geben, von dem, was je musikalisch beigetragen wird? Wenn man dann in die Einzelstimmen eines jeden Musikers reinschaut, ist das erst mal nicht viel. Aber wenn man das wie ein Puzzle zusammensetzt, wie Zahnräder ineinander verkantet und wenn das einmal läuft, dann ist das wie ein großes Uhrwerk oder eine Maschine im Endeffekt. Und das ist so ein großer Gedanke, der darüber geschwebt hat. Und es gibt relativ große Passagen, wo ich das einfach durchzuziehen versuche. Aber andererseits ist es natürlich auch immer utopisch zu sagen: Ich habe den Plan am Anfang gemacht und bleibe zu 100 % dabei. Denn das Spannende für mich ist dann, aus dem Plan, den ich mir irgendwann gemacht habe, natürlich auch auszubrechen und Abweichungen zu finden. Und so gibt es in diesem Stück eben auch andere Konstellationen, die zum Beispiel vorangestellt werden. Das Ganze beginnt etwa mit einer relativ langen Sequenz, in der wir nur ein Streichquartett und Live-Elektronik zusammen haben und es erst mal drei, vier, fünf Minuten dauert, bis das Ganze Fahrt aufnimmt. Also es wird so eine durchaus historisch aufgeladene Konstellation ausgekoppelt und vorangestellt. Und andererseits–unter diesem ganzen Maschinen-Framework, das ich gerade genannt habe, also wenn wir jetzt bei der Maschinenmetapher bleiben–steht ja auch in jedem Apparat eine Art Motor hinten dran und der Motor ist bei mir wie eine Art weitere historische Folie, nämlich die eines Klavierkonzertes. Aber eben nicht so, dass wir einen Klaviersolisten haben, der konzertiert gegen diese Gruppe, sondern in dem Fall sind es zwei Pianisten, ein tatsächliches Klavier und ein Keyboard, das um einen Viertelton verstimmt ist, die den Kern dieses ganzen Apparates bilden und wie so eine Taktung, einen Rhythmus vorgeben. Und das ganze Ensemble, das dort übrig bleibt, stellt sich nicht dagegen, sondern fächert das eigentlich auf. Und so verzahnt sich das, wenn wir dahin wieder zurück abbiegen, zu dieser anderen großen Gesamtkonstellation.
MZ: Sehr schön. Vielleicht bleiben wir noch mal bei diesem Maschinenaspekt. Das würde mich interessieren, was dich besonders an diesem maschinellen Aspekt interessiert. Gerade in der Zeit von KI und den dazugehörigen Dystopien wie in den Matrix-Filmen zum Beispiel. Du sagst ja, du brichst das auch auf. Es gibt in deinen Partituren manchmal auch einige ironische Momente, habe ich das Gefühl, wenn du jetzt in einem Stück schreibst »highly dramatic, it’s a serious business« schreibst. Wie ist dieser maschinelle Aspekt bei dir motiviert oder wie würdest du dich da selber positionieren? Auch zu dieser Idee des Maschinellen in der Musik?
PK: Ich finde das insofern spannend, weil: Wenn wir das mal auf das ausweiten, was unser ganzes Musikhören im Alltag betrifft, ist es ja so, dass alles, was ich mir digital anhöre, ja schon irgendwie durch die Peripherie irgendeiner Maschine gegangen ist. Also wenn wir uns einfach nur basal die Mittel moderner Produktionstechnik vornehmen–es ist ja ein unglaublicher Aufwand von irgendwelchen Aufnahmen in einem Studio, über Schnitt, Nachbearbeitung, Mastering bis hin zur Veröffentlichung, in den meisten Fällen auf digitalen Plattformen heute. Also alle Musik, die wir hören, geht erst mal sowieso schon, wenn wir sie digital hören, den Weg durchs Maschinelle. Und da finde ich eben spannend zu sagen: Die Produktionsmechanismen, die das Musikhören und das Musikerstellen betreffen, die kann ich ja auch nicht ausklammern. Und ich finde es einen spannenden Aspekt, gerade für Stücke wie diese hier, die ja im ursprünglichsten Sinne für eine konzertante Live-Situation gedacht sind und die auch einfach im schlechtesten Falle nur einmal aufgeführt werden, und danach ist der Zugriff dann auch wieder nur möglich, wenn es einen Mitschnitt gab. Dann ist es auch wieder nur durchs Maschinelle hörbar. Und ich finde das spannend, dass dieser eigentliche Moment der Aufführung nichts Wichtiges mehr ist, der ist ephemer. Auch ich kenne quasi von diesem Stück zu neunzig Prozent die Varianten der Aufnahmen, die es davon gibt. Und bei dieser Rückübersetzung, die jetzt dann auch wieder stattfinden wird, wenn das geprobt und im Ende Januar aufgeführt wird–auch ich muss mich dafür erst mal selbst wieder lösen von dem Duktus, von der Qualität dieser Aufnahme. Ich tauche dann ganz kurz wieder ein in diese Live-Welt. Und das steht so ein bisschen stellvertretend für das, was mich in meinem Denken auch einfach inspiriert, dass ich alles, was kulturell, vor allem popkulturell passiert–was die Rezeptionsmechanismen angeht, mittels derer wir Musik, Film, also Medien im Allgemeinen rezipieren–das kann und will ich auch in der Komposition oder in meiner Kunst nicht ausklammern.
MZ: Sehr schön, vielen Dank. Dann gehen wir jetzt mal zu Vice über, und dabei noch einmal zurück zu dieser Sozialität, zu diesen verschiedenen Konstellationen. Da ist ja das Setup ein ganz anderes, wenn du das vielleicht ganz kurz beschreiben könntest?
PK: Also dieses Projekt bzw. auch dieses Stück ist zunächst einmal aus der Idee geboren, dass wir zwei Ensembles, die sonst unabhängig auf Bühnen agieren, zusammenbringen. Das sind nämlich einerseits das Stuttgarter Trio Pony Says, die nun ursprünglich aus der Improvisationsmusik kommen und relativ elektronisch geprägt sind. Also ursprünglich waren das mal Tasteninstrumente, Gitarre und Percussion und heutzutage spielen sie vor allem Synthesizer, analoge Synthesizer, digitale Keyboards, elektronische Gitarren mit Effekten und statt einem traditionellen Schlagwerk haben Sie vor allem ein E-Drumset, also ein Trio, das einen sehr elektronischen popkulturellen Sound mit sich bringt. Und auf der anderen Seite bringen wir die zusammen mit Musikern des belgischen Ictus Ensemble, die ziemlich volatil sind, was ihre Ausstattung betrifft. Also dieses Ensemble bringt einen unglaublichen Pool an Musiker*innen mit, die auch super umtriebig sind. Und in diesem Projekt kommen aber vor allem klassische Ensembleinstrumente mit. Und dieses elektrifizierte Trio zusammen mit einer Auswahl von akustischen Instrumenten, die sonst eben unabhängig agieren, die bringen wir jetzt zu einem Klangkörper zusammen für dieses Projekt. Und da das die Setzung von Anfang an war und ich das immer interessant finde, mich mit den Umständen zu arrangieren, die bei der Entstehung von Stücken, wenn sie dann mal ins Rollen kommen, dabei sind, war das ein Aspekt, der für mich auf jeden Fall auch wichtig war. Und so haben wir auf der einen Seite diese Elektrosphäre, genuin elektrische Sounds, gegen eben den verkleinerten, in diesem Fall aber immer noch eher traditionellen Ensembleapparat.
MZ: Den Titel Vice hast du ja wieder sehr schön doppeldeutig gewählt. Der ist ja auch ein Abbild dessen, was musikalisch tatsächlich sich realisiert in der Aufführung.
PK: Ja, genau so ist es. Das ist dort auch wieder der Fall. Also es gibt zwei große Lesarten, die man mitbringen kann. Einerseits bedeutet dieses klassische »Vice…« auf Deutsch »Vize…«, also dieses Zusammenbringen von zwei Konstellationen, zwischen denen eine Hierarchie aufgemacht wird, also es steht jemand oben und die andere Konstellation ist als Vizekonstellation daruntergeschaltet, aber kann, wenn die Hauptkonstellation ausfällt, eben stellvertretend einspringen mit den gleichen Rechten und Pflichten. Also das ist natürlich so die offensichtliche Lesart. Und zweitens verweist das für mich aber auch auf–wenn man das direkt übersetzt–das Lasterhafte, das Verruchte. Einerseits steht dieser Begriff ganz, ganz prominent für Popkultur aus den Achtzigern, die ja jetzt wieder gerade in Popkulturprodukten unserer Zeit in den letzten Jahren eine riesige Nostalgiewelle erlebt hat und in verschiedenen Medien Ausformungen hervorbringt, die sich auf Klänge oder Idiome aus den 80er beziehen. Dabei werden aber–und da kommen wir wieder zu den Produktionsmechanismen, die ich vorhin angesprochen habe–zeitgenössische Produktionsmechanismen und Einflüsse von heute benutzt und so entsteht eine ganz seltsame Melange, ein Sound oder ein mediales Abbild, das auf 80er-Ästhetik verweist, das aber damals–ich kann es auch nicht wissen, weil ich da noch nicht gelebt habe–nie so existiert hat. Und dieser mimetische Vorgang, etwas nachzuahmen und daraus etwas Neues zu generieren, das vielleicht nie ein Vorbild hatte, was natürlich eine super große Assoziation mit nostalgischer Verklärung und Idealisierung aufmacht–das kommt auf der anderen Seite hinein und das finde ich auch sehr spannend.
MZ: Wie groß ist deine Sehnsucht, diese Grenzen zwischen Populärkultur-Erscheinungen und der Neuen Musik, die inzwischen ja eine altehrwürdige ist, über 110 Jahre verwendet man den Begriff, einzureißen. Ist das für dich auch irgendwie wichtig oder spielt diese Grenzziehung vielleicht überhaupt gar nicht mehr die große Rolle für dich? In deiner Generation sowieso?
PK: Ich würde zunächst erst mal verneinen, dass es diese Grenzziehung überhaupt vielleicht je gegeben hat, da das auch einfach eine Konstruktion ist. Also wenn wir bei dem popkulturellen Beispiel bleiben: Für mich ist es im persönlichen Interesse, aber auch in der Recherche so, dass wenn man die letzten, sagen wir mal jetzt wirklich, 100 Jahre zurückschaut, die Grenzen schon immer verwischt waren, dass Produkte der Popkultur schon immer Einfluss auf die Hochkultur hatten und umgekehrt–wenn wir das jetzt so abgrenzen und nennen wollen. Das fängt schon an in den in den 60er, 70er Jahren, wenn Filme wie–das bekannteste Beispiel wird ja Kubrick mit 2001 sein–wenn Filme sich für ihre Soundtracks aus den Stücken der zeitgenössischen, der klassischen Musik bedienen und durch diesen Einsatz, dadurch, dass es dann in der Popkultur stattfindet, das einem breiten Publikum überhaupt erst bekannt machen. Bis heute gibt es, glaube ich, Menschen, die natürlich bei der Zarathustra–Eröffnung von Strauss oder eben den Ligeti-Stücken, sofort denken: »Ja, das ist die 2001-Musik«–also das so als als kleinstes, als einfachstes Beispiel. Und so etwas, finde ich, zieht sich auch ein bisschen durch: Etwa die Produktionsmechanismen am Anfang der 50er und in den 60ern, in den elektronischen Studios, im WDR, im SWR–diese Produktionstechnik, die habe ich heute hier auf meinem Gerät, auf meinem Computer dabei, in meiner Software, mit der ja vor allem Popmusik, elektronische Musik erstellt wird. Es hängt also schon immer irgendwie zusammen. Also Inspiration und Grenzen verlaufen fließend und ich glaube, das ist nichts Schlechtes, im Gegenteil. Ich finde das immer sehr spannend, auch bis heute zu beobachten. Ich glaube, man kann auch auf beiden Seiten von aktuellen Trends sprechen. Das Bild, das kriegt man ja in der zeitgenössischen Musik aufgrund der kleineren Größe der Szene wahnsinnig schnell mit, was so die aktuellen Trends sind, z.B. die ganze Ästhetik aus erweiterten Spieltechniken. Was bei Lachenmann beginnt, hat auch einfach bis heute einen Soundkatalog nach sich gezogen. Das ist wie so eine Sample-Datenbank, wenn wir es jetzt so rüberbringen wollen. Genauso wie es irgendwie die idiomatischen Elektro-Synthie-Sounds der 80er gibt, gibt es in der zeitgenössischen Musik einen Soundkatalog erweiterter Spieltechniken. Also nicht umsonst gibt es auch schon Sounddateien, wo ich das auch einfach gesammelt kaufen und abrufen kann. Also es ist reproduzierbar, es greift ineinander und ich könnte jetzt noch stundenlang weiterreden mit solchen kleinen Beobachtungen, die ich täglich mache und daraus auch irgendwie das ziehe, was mich antreibt.
MZ: Die Frage ist dann die nach dem Kunstcharakter, oder? Was macht den Kunstcharakter aus? Oder ist es überhaupt noch eine relevante Kategorie? Also wo ist der Unterschied zwischen Unterhaltung, die eher ein bisschen oberflächlicher ist, die vielleicht auch ein bisschen mehr atmosphärisch gearbeitet ist und dem, was wir vielleicht auch mit dem Anspruch von abendländischem Komponieren verbinden, das eine große Tradition hat. Wo würdest du dich da verorten? Oder ist es auch auch ein künstlicher Gegensatz für dich?
PK: Hm, ja, ich glaube, da liegt der Gegensatz noch am ehesten einfach im Zweck oder im Ziel, um dessentwillen diese Produkte existieren. Und in der Sphäre der Kulturindustrie ist es natürlich so, dass die Produkte verkauft werden sollen, ein möglichst breites Publikum erreichen sollen, um eben nach kapitalistischer Verwertungslogik einen Gewinn zu erzielen. Und das steht erst mal diametral entgegengesetzt zu dem, was wir hier in der zeitgenössischen Musik bezwecken. Also die Kunst muss kein Geld machen, das ist ja auch was Schönes, dass sie keinen Gewinn nach Marktlogik erzielen muss. Ich glaube, das ist so der größte Unterschied, der dem voran geschaltet ist.
MZ: Man kann ja tatsächlich sagen, dass es anspruchsvolle Musik auch in der Popmusiksphäre gibt, die einen wirklich auch künstlerisch herausfordert, ästhetisch vielleicht sogar Neues schafft. Ich sehe das eigentlich auch relativ fluid inzwischen und sehe auch das Verhalten des Publikums relativ fluid sozusagen oder volatil, das sich also je nach Gelegenheit vielleicht auch ganz woanders andocken kann, sozusagen in verschiedenen Musiksphären. So erlebe ich das auch hier in Berlin, wenn ich in einen Club gehe, und da machen die Xenakis und danach eben noch Clubmusik und da sitzt das Publikum und geht bei beiden Dingen gleichermaßen mit. Das fand ich hier eines der unglaublichsten Erlebnisse. Ich bin ja erst vor kurzem hergezogen. Ich habe vielleicht noch eine Frage zu den Interpreten. Du hast ja drei wirklich sehr renommierte Ensembles, die deine Musik in Stuttgart spielen werden. Inwiefern spielen denn diese interpretatorischen Eigenarten und die spieltechnischen Fähigkeiten der Ensembles auch noch ein bisschen mit rein? Vor allem jetzt bei dem Auftragswerk, Vice, für diese beiden verschiedenen Musikerkonstellationen?
PK: Ja, das ist natürlich immer ein Punkt, von dem gerade am Anfang des Entstehens eine gewisse, man könnte sagen Einschüchterung ausgeht. Was mach ich da jetzt, was steht mir zur Verfügung? Überfordere, unterfordere ich jemanden? Aber das Schöne ist ja, dass es mich nicht interessiert, eine Virtuosität zu erzeugen, nur um der Virtuosität willen. Also kurz gesagt: Es ist schön, mit diesen Interpreten arbeiten zu können. Aber es wirkt sich jetzt nicht unbedingt auf das Endergebnis aus, dass das mit dem Wissen ensteht: Das ist jetzt genau für dieses renommierte Ensemble oder für diese Musiker*innen. Ich glaube, diese Grenze überspringe ich gerne und es ist auch immer so ein bisschen Abwägungssache. Wenn ich Dinge schreibe, wo ich im Prozess denke: Aber das ist ja hier total leicht, das wird niemanden überfordern, das hier ist einfach. Dann mache ich mich davon frei. Und dann sind das vielleicht plötzlich diese Stellen, von denen sich in der Probe herausstellt: Das wird dann das Schwierigste. Also das ist immer doppeldeutig, also ich kann es nicht beeinflussen und deswegen mache ich mich von diesem Gedanken auch frei.
MZ: Mit Christine habe ich mich darüber unterhalten–wir verstehen uns da auch in dem Punkt sehr gut–dass es ja immer auch ein bisschen darum geht, zu zeigen: Was können wir überhaupt als Künstler vor diesem Hintergrund dieser ganzen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen tun, um die Sinnfrage sozusagen zu beantworten. Ich kenne durchaus ein paar Komponisten, die im Moment sich eher so auf der Kippe hin zu Klimaaktivisten sehen und sagen: Hey, was mache ich hier eigentlich, das ist so weit weg von dem, was uns jetzt alltäglich beschäftigt und beschäftigen müsste. Hier den Konnex herzustellen, ist natürlich immer sehr erwünscht. Aber es ist eben nicht die einzige mögliche Annäherung an das, was man als Künstler tut, völlig klar. Da habe ich bei Enno Poppe sehr viel gelernt, der sich ja auch eher total zurückhält bei weltanschaulichen Fragen. Würdest du dich da vielleicht auch eher zurückhalten wollen?
PK: Hm, ich glaube, da treffen wir wieder damit zusammen, was wir schon am Anfang besprochen hatten, wo ich etwas darüber sagte, dem Publikum die Hand zu reichen, ich glaube, das ist eher das Gesellschaftliche, das du auch schon gerade angesprochen hast: Was haben wir noch zu sagen? Die Leute wenden sich ab. Und für mich gilt es dann eher zu versuchen, zwischen diesen Sphären, auf der einen Seite die zeitgenössische Musik, die Hochkultursphäre, auf der anderen Seite die Popkultursphäre, da irgendwie zu balancieren, um Leute von beiden Seiten reinzuholen. Und mir ist das eher wichtig, glaube ich, wenn wir schon ganz praktisch mit dieser Kunst vielleicht nicht unmittelbar etwas bewegen können, dann aber auf beiden Seiten trotzdem Leute reinzuholen, weil ich glaube, dann mobilisieren wir Leute, wenn wir sie irgendwie interessant ansprechen. Und wenn die das gut finden, dann schaffen wir es vielleicht auch im übertragenen Sinne so eine Energie auf eher andere gesellschaftliche Sphären zu übersetzen, wenn wir es da schon schaffen, irgendwie zusammenzukommen. Vielleicht lässt sich das auch übersetzen. Das fällt mir spontan dazu ein.
MZ: Das sehe ich auch so. Also möglichst Zusammenhang zu stiften, im weitesten Sinne erst mal Dinge zusammenbringen, Menschen zusammenbringen. Und das ist, glaube ich, schon modellhaft, auch in einer Welt, die total auseinanderfällt, in Filterblasen und Echokammern. Ich denke, das ist dann einfach genau der Anspruch, den wir auch alle haben sollten, diese Sozialität eben auch zu stiften. Sehr schön. Philipp, wunderbar, ich danke dir.