Donnerstag
Heute, am Tag, an dem dieses Vorwort entsteht, wird in Belarus gewählt. Einer der dienstältesten Diktatoren der Welt bietet alle Kräfte der Manipulation und Unterdrückung auf, um sich durch eine scheinbar demokratische Wahl zu legitimieren. Gegen die letzte Scheinwahl im Sommer 2020 protestierten Hunderttausende. Die Antwort des Staatsapparats war grausam und gründlich und brachte das Land zum Verstummen. Unsere Kollegin und Freundin Maria Kalesnikava, eine Ikone der längst nur noch aus dem Ausland agierenden belarusischen Demokratiebewegung, gehört zu den prominentesten politischen Gefangenen des Landes. Ihr zu Ehren, und auch, weil die Geschehnisse in Osteuropa so unmittelbar mit unserer politischen Realität zusammenhängen, bieten wir Künstler*innen im Exil aus Belarus und anderen von Autokratien beherrschten Ländern eine Plattform–und mehr noch, wir kämpfen darum, dass ihre Kunst nicht nur solidarische Aufmerksamkeit, sondern echte Anerkennung und Integration in unserem Kunstsystem erfährt.
Die belarusische Dichterin Vera Burlak verließ aufgrund drohender Verhaftung ihre Heimat zusammen mit ihrer Familie erst vor gut einem Jahr. Ihr Sohn Kastuś hatte als Autist in Minsk eine wichtige Förderung erhalten, die nun im Exil–in einer Fremdsprache–erst wieder mühsam aufgebaut werden muss. Zu Lernen, seine Gefühle auszudrücken: Vera beschreibt hier im Heft und im zum Projekt erscheinenden Comic-Band eindringlich, was das angesichts eines manipulativen, die Kinder abrichtenden postsowjetischen Bildungssystems bedeutet. Zusammen mit Kastuś, der ein hochbegabter Zeichner ist, erfand sie das ABC der Ausrufe, in dem jeder der 34 Buchstaben des belarusischen Alphabets in einen Ausruf und eine dazugehörige Erzählung verwandelt wird. Die Animationsfilmerin Monika Nuber versetzt die Comics in Bewegung und Georgia Koumará bettet alles in eine raumgreifende Klangerzählung ein. Die Performance ist von heute bis Samstag in P1 zu sehen–versäumen Sie sie nicht!
Ich danke Philipp Haußmann und der Klett Gruppe sehr herzlich für die großzügige Förderung dieses Projekts!
Das Konzert des SWR Symphonieorchesters öffnet in vieler Hinsicht utopische Räume. Emphatisch beschreibt Johannes Maria Staud die Möglichkeiten der Musik, die »nicht instrumentalisierbar, korrumpierbar ist und die Realität–durchaus auch als Vorbild für Politik und Gesellschaft–so zeigen kann, wie sie wirklich ist: vibrierend, oszillierend, flackernd, zitternd, bebend. Irisierend und vielgestaltig in der Fülle der möglichen Bedeutungsräume…« Lydia Jeschke, die Kuratorin der beiden Konzerte, die der SWR dankenswerterweise ins Festival einbringt, schreibt über das Konzert: »In den Klängen eines Orchesters ist Vieles möglich, den musikalischen Korrespondenzen sind kaum Grenzen gesetzt. Die Komponist*innen des diesjährigen Orchesterkonzerts der SWR JetztMusik aber interessieren vor allem die Zwischentöne: zwischen den Ereignissen und auch zwischen real Vorgefundenem und Imagination. Es gilt dabei, wie Elena Mendoza schreibt, in der Erfahrung von Kriegen und Krisen die Suche nicht aufzugeben, die Frage nach einer anderen Wirklichkeit.«
Sarah Nemtsov beschäftigt sich in ihrem Zyklus SEPHIROT mit der jüdischen Mystik und dem kabbalistischen Konzept des Lebensbaums, der die göttlichen Kräfte, die uns ausmachen, miteinander verbindet. Sie hat die Stücke für die Solist*innen der Musikfabrik und den Gitarristen Yaron Deutsch geschrieben, deren Fähigkeiten und Herausforderungs-Lust sie gut kennt und bei denen sie ihre kraftvolle Musik gut aufgehoben weiß.
Christine Fischer