Editorial 24
ECLAT 2024 lädt ein zum Perspektivenwechsel. Wir entfernen für die Dauer des Festivals die Zuschauertribüne aus der großen Theaterhaus-Halle und bringen Publikum und Kunst auf der so entstehenden freien Spielfläche jeden Tag in andere, neue Beziehungen. Wo wir am Eröffnungstag in intimer Nähe zur Interpretin das Entstehen von Klängen verfolgen können, erleben wir am Folgetag einen weiten, fast kathedralenartig erscheinenden Raum.
Angesichts erschütternder Krisen, wegrutschender Gewissheiten und daraus resultierender Ratlosigkeit hinsichtlich eigener Handlungsspielräume ist das weit mehr als eine nur musikbezogene Einladung.
»Wenn ich ehrlich bin, krieg ich das alles, was mich gerade so heftig umtreibt, nicht mehr auf die Kunstebene!« So beschreibt Christoph Ogiermann einen Zustand, den viele Kunstschaffende empfinden. Wenn geopolitische Verschiebungen und Klimawandel zu fast unlösbaren Herausforderungen werden, Gesellschaften sich dadurch rapide verändern, stabil geglaubtes Demokratiebewusstsein schwindet, wenn menschenrechtsmissachtende Autokraten und Terror Zustimmung aus der Mitte unserer Gesellschaft bekommen, fühlt man sich als Kulturschaffende in einer Mitverantwortung. Wie können wir als Zivilgesellschaft die Herausforderungen meistern–und was tragen die Künste dazu bei? Können wir etwas verändern, wenn wir der Polarisierung empathische Aufmerksamkeit, den Vorwürfen Nachdenklichkeit, dem Aburteilen das Begreifen, den Parolen das Differenzieren entgegensetzen?
»Perspektivenwechsel« entstehen bei ECLAT stets auch in Dialogen zwischen Musik und anderen Künsten. So arbeiten bei den »Poetry Affairs« zehn Dichterinnen und Komponist*innen aus allen Teilen Europas eng zusammen. Literarische Vorlagen beeinflussen aber auch die musikalische Gestalt vieler weiterer Projekte–wie Yair Klartags »Music of the Sefira« oder Christian Masons »Invisible Threads«, das von einem bemerkenswerten »polyphonen« Text von Paul Griffiths zusammengehalten wird.
Mit diesem »Klang-Ritual« feiern wir übrigens auch das nunmehr seit 50 Jahren bestehende Arditti Quartet. Viele bewährte Akteure–nicht zuletzt Neue Vocalsolisten, SWR Symphonieorchester und SWR Vokalensemble als »Säulen« des Festivals–prägen diesen Jahrgang. Einige geben aber auch ihr ECLAT Debüt, darunter das New Yorker Piano-Per- cussion Quartett Yarn/Wire, das Berliner Ensemble Apparat und das Karlsruher Duo LAB51.
Debütant*innen erhoffen wir auch auf Seiten des Publikums, nicht zuletzt im oben beschriebenen Sendungs-Bewusstsein. Mit dem Ensemble SPORT gestalten wir daher zusammen ein spannendes, grenzüberschreitendes Beginners-Programm.
ECLAT möchte dezidierten Statements, aber auch dem subtilen Entfalten künstlerischer Anliegen Raum geben. Wir möchten Ohren und Augen auf Details lenken und dem Erhabenen Raum bieten, Erwartungen hintertreiben und empathische Zugänge schaffen zu einem vielschichtigen Festival. Selbstvergewissernd, ermutigend, erbauend, erlebnisreich.
Seien Sie willkommen zu fünf perspektivenreichen Tagen!
Christine Fischer, Künstlerische Leitung
und das Team von Musik der Jahrhunderte