One line
Interview

Belenish Moreno-Gil & Óscar Escudero

The Day Fanny Mendelssohn Died
Sa 03.02., 16:30 Uhr

Musikwissenschaftler Michael Zwenzner im Gespräch mit Belenish Moreno-Gil & Óscar Escudero.

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MZ: Würdet Ihr Euch vielleicht zu Beginn kurz vorstellen? Erzählt uns, auf welche Weise Ihr in euren Musiktheaterarbeiten der letzten Jahre, aber auch speziell in diesem Projekt jetzt, zusammengearbeitet habt?

 

BM: Mein Name ist Belenish Moreno-Gil. Ich bin Post-Komponistin und auch Musikwissenschaftlerin. Und seit 2018 arbeite ich mit Oscar im Tandem. Wir haben in den letzten 3 oder 4 Monaten an diesem Stück gearbeitet. Oscar, möchtest du dich vielleicht kurz vorstellen?

 

OE: Ich bin Oscar Escudero. Ich kann sagen, dass mein Bildungshintergrund sehr klassisch ist. Ich habe Oboe und Komposition in Zaragoza, Spanien, studiert und dann einen Master in Komposition in Dänemark und Österreich gemacht. Und seit wir zusammenarbeiten, haben wir festgestellt, dass wir gerne hybride Wege der Aufführung erforschen. Natürlich ist das Feld der Musik, des Theaters, des »music theatre« oder Musiktheatersin beiden Sprachen hat der Begriff etwas unterschiedliche Bedeutungenetwas, mit dem wir uns sehr wohl fühlen, weil es wie eine nie endende Spekulation ist. Wir befassen uns auch mit einem unserer Lieblingsthemen, nämlich der Technologie undnatürlichderen Auswirkungen auf Körper in Bühnensituationen und auch auf Daten.

 

MZ: Wir werden später noch auf den konkreten Aufbau des Stücks zu sprechen kommen. Bevor wir dazu kommen, möchte ich Euch zunächst eine allgemeinere Frage stellen. Ihr stimmt vielleicht zu, dass wir in ziemlich dunklen Zeiten leben. Und ich würde Euch gerne fragen, wie Ihr beide als Komponisten und Künstler damit umgeht? Gibt es eine bewusst gestaltete Beziehungen zwischen dem, was Ihr künstlerisch tut, und dem, was Ihr im täglichen Leben erlebt, oder ist das eher ein zufälliges Nebenprodukt? Oder glaubt Ihr, dass Ihr eher eine Art Gegenuniversum schafft? Was würdet ihr dazu sagen?

 

BM: Für uns ist Musik politisch. Von Anfang an, also als wir anfingen, zusammen zu arbeiten, war es uns sehr wichtig zu wissen, dass das, was wir sagen, von Bedeutung ist, zumindest für uns selbst, aber hoffentlich auch für die Leute, die zu den Aufführungen oder zu diesem einen Konzert gekommen sind. Aber wir haben das Gefühl, dass wir einen Kompromiss finden müssen zwischen dem, was wir künstlerisch machen wollen, und dem, was es heutzutage bedeutet, Kunst zu machen. Natürlich fließt auch unser tägliches Leben in unsere Stücke ein, denn wir glauben nicht, dass wir nur für Musiker komponieren, sondern für die Menschen, die diese Instrumente spielen: Es ist also eine andere Herangehensweise an die Menschen, die unsere Stücke spielen. Wir gehen davon aus, dass es sich um eine bestimmte Person handelt, nicht nur um einen Musikeralso nicht einen Geigenspieler, sondern die eine Person, die Geige spielt. Wir achten auf die Identität im wahrsten Sinne des Wortes, denn es ist wichtig zu wissen, wer der Mensch hinter seinem Instrument ist. Das, was heute alltäglich passiert, wirkt sich natürlich auch auf die Stücke aus. Vielleicht kannst Du etwas mehr über die Personalisierung sagen, Oscar, denn ich denke, das ist ein guter Punkt, um zu verstehen, wie wir mit all diesen Problemen umgehen und wie wir Musik mit der Realität verbinden.

 

OE: Ich kann fortfahren, indem ich sage, dass die Identität ein Teil der Partitur ist, sie ist Teil der Musik, sie ist ein Instrument. Es ist also politisch, weil für uns vor allem die Tatsache zählt: Wer komponiert? Wer spielt? Und wo und wann spielen wir dieses Musikstück, dieses Musiktheaterstück? Da sich die Stücke also stark verändern, je nachdem, wer sie spielt, verändern sich auch ihre politischen Konsequenzen. Und natürlich ist die Identität für uns nichts Naives. Ich meine, wir können als Beispiel ein Stück nehmen, das wir auf der Münchner Biennale uraufgeführt haben: Subnormal Europe. Von Anfang an war es für das Stück entscheidend, dass die einzige Person außereuropäischer Nationalität die Sängerin war und der Rest des Produktionsteams aus Deutschland und in unserem Fall aus Spanien stammte. Wir sprachen also über Europa, doch die Hauptfigur war eben keine Europäerin. Das spielte eine wesentliche Rolle in diesem Stück, zum Beispiel.

 

MZ: Würdet Ihr also darauf hoffen, dass der Raum, den Ihr im ästhetischen Sinne schafft, etwas mit unserer Realität zu tun hat und sich das auch auf das Publikum überträgt? Und hat das irgendeinen Einfluss auf die Idee der Historizität, die für viele Komponisten heute immer ein Ziel zu sein scheint? Macht Ihr Eure Arbeit nur für unsere Zeit oder würdet Ihr auch sagen, dass das Stück an sich etwas ist, das in andere Zeiten transportiert werden kannso wie die Musik von Fanny Mendelssohn vielleicht in unsere Zeit transportiert werden kann, um Dinge zu verdeutlichen… Wie denkt Ihr darüber?

 

OE: Ich glaube, wir haben uns sehr bemüht, unsere Arbeit zu einer archäologischen Übung zu machen. Natürlich ist es eine nicht-fiktionale Kreatur, die wir hier »erschaffen«. Wenn wir also von Archäologie sprechen, meinen wir eine Figur, die in der akademischen Welt, also im sogenannten »Anarchiv«, heutzutage sehr präsent ist. Natürlich erforschen wir Geschichte, suchen wir nach Informationen, aber wir verstehen unsere Position als Künstler sehr nahe an der von Historikern. Für uns ist es selbstverständlich, dass wir uns mit der Vergangenheit durch die Gegenwart auseinandersetzen, um zu verstehen, was in der Zukunft passieren wirdvor allem unter dem Einfluss der künstlichen Intelligenz, wenn man bedenkt, dass Geschichte Daten sind. Ich meine, Geschichte kann kopiert werden, kann eingefügt werden, kann gefälscht werden. Natürlich werden Musik und Theater immer eine Fiktion sein, und Theater wird immer eine Technologie seindie Technologie, eine Fiktion zu erschaffen. Die zeitgemäßeste und bahnbrechendste Technologie, um diese anspruchsvollen Fiktionen zu erschaffenum es so zusammenzufassenist das, was uns wirklich interessiert.

 

MZ: Belenish, jetzt kommt ins Spiel, dass Du Musikwissenschaftlerin bist. Vielleicht ist das ein Hinweis darauf, wie ihr zu diesem speziellen Sujet von The Day Fanny Mendelssohn Died gekommen seid. Was interessiert euch an dieser bürgerlichen Musikgattung des romantischen Liedes und an dieser spezifischen Epoche der Musikgeschichte? Wie entstand die Idee zu diesem Stückes?

 

BM: Richtig, ich bin Musikwissenschaftlerin. Ich denke also immer über Geschichte nach. Ich meine, das ist Teil unserer Arbeit, und es ist sinnvoll, das zu wissen, denn ich denke, man kann die Beziehung zwischen diesen beiden Dingen erkennen. Die Beschäftigung mit Fanny Mendelssohn in diesem Stück ergibt für mich sehr viel Sinn, weil wir über so viele verschiedene Themen sprechen wollten, zum Beispiel darüber, was heutzutage weiblichen Künstlern geschieht. Die Figur der Fanny ist natürlich sehr interessant, denn wir kennen vor allem ihren Bruder, Felix Mendelssohn, und all die historischen Möglichkeiten, sich dieser Figur, also ihm, zu nähern, während seine Schwester immer im Schatten steht. Für mich war es also wichtig, das im Hinterkopf zu habenaber auch, dass Fanny eine wohlhabende Frau war. Das war einer der Gründe, warum sie nicht die Möglichkeit hatte, ihre Musik zu veröffentlichen. Es gibt in dieser Hinsicht immer diesen Vergleich zwischen Clara Schumann und Fanny Mendelssohn, dass Clara nicht genügend Geld hatte, und also ihre Musik verkaufen musste, um davon leben zu können. All das ergibt den ersten Ideenkomplex. Und zweitens bin ich nun mit diesem Stipendium hier in Rom. Zeit ihres Lebens erinnerte sich Fanny gerne an ihre Zeit in der Villa Medici, die damals eine Akademie für französische Künstler in Rom war. Dort hatte sie die Gelegenheit, viele verschiedene Persönlichkeiten wie etwa Charles Gounod kennenzulernen, der ganz verliebt in ihre Musik war, und auch ihr Wissen z. B. über Bach sehr schätzte. So hatte sie damals die Möglichkeit, sich selbst als Komponistin zu betrachten und nicht nur als jemanden, der zu Hause für Freunde komponiert. Für mich war das auch persönlich wichtig, denn wirOscar und ich -komponieren ja gemeinsam. Manchmal ist es schwierig zu verstehen, wer was macht, wer welche Rolle hat. Für die Leute ist es manchmal einfacher, Oscar als den Komponisten zu sehen. Diese Gelegenheit jetzt in Rom zu haben, war für mich auch eine Gelegenheit wie jene, die Fanny Mendelssohn damals hatte: eben als gleichberechtigt angesehen zu werden. Ja, Fanny Mendelssohn inspiriert mich, eine ganze Welt von Bedeutungen und Themen zu erschaffen, die wir mit diesem Stück zum Leben erwecken wollen.

 

OE: Es scheint mir wichtig zu verstehen, dass Fanny Mendelssohn ein wenig wie Die Zauberflöte ist. Diese ist ein kleines Stück eines ganzen Universums, aber ein sehr guter Einstieg in die große magische Welt der Oper. Für uns kann Mendelssohn als hervorragendes Eingangstor dienen, um über viele Frauen zu sprechen, um ein ganzesübrigens nicht eurozentrischesArchiv von Frauen zu schaffen, die es in der Vergangenheit gab und die es heute gibt. Wir berücksichtigen auch sehr stark die Biografien der beiden Interpretinnendas ist sehr wichtig!Magdalena Fiorito und Johanna Vargas, die Pianistin und die Sopranistin. Und wir sprechen auch über KI-generierte Geschichten von Menschen, die es gar nicht gibt. Aber wir mischen alles zusammen und erschaffen viele Geschichten, die sich durch die Lieder ziehen…denn in gewisser Weise können wir dies als einen sehr traditionellen »Liederzyklus« bezeichnen! Wir sprechen in jedem Lied über einige Aspekte dieser sehr vielschichtigen Konstellation, die wir uns vorstellen.

 

MZ: Zufällig war ich erst vor ein paar Wochen am Grab von Fanny Mendelssohn. Und das Interessante ist, dass es da noch ein anderes Grab gibt, jenes von Emilie Mayer. Vielleicht habt Ihr schon von ihr gehört. Auch sie war eine Komponistin des 19. Jahrhunderts, und auch sie hatte als reiche Erbin ihres frühverstorbenen Vaters die Möglichkeit, Komponistin zu werden. Für Fanny Mendelssohn war es aber wohl trotzdem ein ziemlicher Kampf zu komponieren, auch weil sie ständig mit ihrem Bruder konfrontiert war, der nicht wirklich daran glaubte, dass sie diese Karriere verfolgen könnte.

 

BM: Ja, ihre Geschichte ist sehr interessant, weil es so viele erstaunliche Details gibt. Zum Beispiel schrieb Felix ihr nur wenige Wochen nach der Geburt: Warum komponierst du nicht? Er drängte sie also gewissermaßen, zu komponieren. Gleichzeitig sagt er aber auch: Du hast nicht das Niveau, um deine Musik zu veröffentlichen. Es ist also ein sehr interessantes Machtspiel zwischen den beiden. Denn gleichzeitig handelte er in gewisser Weise aus reiner Liebe zu seiner Schwester. Er war also wie: Ich kann nicht ohne sie leben… und dann diese ganze Tragödie mit den Schulden. Also diese Geschichte ist wirklich…

 

OE: …voll von Farben…

 

BM: …und Geschmäckern, voller Helligkeit und Dunkelheit zugleich.

 

MZ: Ihr bringt also viele Dinge miteinander in Verbindung, und ihr habt auch über künstliche Intelligenz gesprochen. Ich denke, wir sollten als Nächstes über das Textbuch sprechen, das ihr für dieses Stück erstellt habt. Vielleicht könnt ihr kurz erklären, wie es entstanden ist? Welches sind die Quellen, die ihr benutzt?

 

OE: Da gibt es viele verschiedene. Nun, dies wird ein 30 Minuten langer Liederzyklus, der in 11 bis 12 Lieder unterteilt ist. Über die genaue Auswahl müssen wir noch entscheiden. Und der Text variiert wirklich. Es gibt zum Beispiel ein Lied, eine Art Wiegenlied, das heißt Meta Content Moderator’s Lullaby. Und der Text ist komplett von künstlicher Intelligenz generiert, Satz für Satz, nur um die Atmosphäre eines schrägen Wiegenliedes einzufangen. Die Situation ist für uns sehr klar. Es handelt sich um eine Person, die Inhalte moderiert, die ständig Gewalt sieht und diese ignoriert oder löscht. Diese Problematik ist ziemlich gut bekannt: Es gibt einen bekannten Dokumentarfilm über Unternehmen wie Google oder Meta, die Menschen mit der Moderation dieser Inhalte beauftragen. Außerdem stellen wir uns einen Extremfall vor, nämlich eine Mutter, die versucht, ihre Tochter zu beschützen, die noch ein Baby ist, für die sie sich ein besseres Leben wünscht. Doch sind die Worte dafür allesamt künstlich generiert. Es ist also praktisch eine Art Leere, die wir erzeugen. Es gibt also keine Worte mehr, die eine Mutter zu ihrer Tochter sagen kann, weil sie völlig leer von Liebe und Hoffnung ist.

 

BM: Zu anderen Liedern haben wir den Text selbst geschrieben. Und wir haben auch einige Interviews mit Johanna geführt, die selbst Mutter ist, um mehr über ihr Leben zu erfahren, und es gibt einige Lieder, die Wort für Wort dem folgen, was sie in diesem Interview gesagt hat.

 

OE: Es geht dabei viel um Trauma und Kolonialisierung. Es war für das Stück insofern wirklich wichtig, dass Johanna in Kolumbien geboren wurde. Besonders der Fall von Johanna hat uns sehr interessiert, wiederum als nicht-europäische Person. Und natürlich hat auch Magda ihre eigene, wirklich interessante Geschichte, aber als Europäerin war ihr Lebenetwa was die Reisepässe angehtvielleicht etwas einfacher. Beide sind in Deutschland ansässig. Es gibt viele Sprachen in den Liedern: Deutsch, Spanisch, Englisch, Japanisch, Suaheli… es sind über 15 oder 16 verschiedene Sprachen. Dazu spielen wir mit Untertiteln, auch mit falschen Untertiteln. Es gibt einen anderen Song, der heißt Ein Döner mit Allesund nicht mit Allem. Weil wir hier auf den Zusammenhang von Gewalt und Sprache eingehen. Und das ist lustigerweise ein Lied fast ohne Worte, sondern eher mit Geräuschen beim mühevollen Versuch, einen Satz auszusprechen, bis ganz zum Schluss, wo dieser dann der einzige Satz ist, den die Person sagt. Es gibt noch einige andere Lieder, die mehr erzählend und supernarrativ sind, vor allem die, die direkter von Fanny Mendelssohn erzählen. Es ist also wirklich sehr, sehr unterschiedlich.

 

MZ: Greift ihr auch auf musikalische Quellen und Textquellen aus der Zeit von Fanny Mendelssohn zurück? Und wie macht ihr das? Wie geht ihr damit in der Partitur um?

 

BM: Es gibt drei Lieder, die ihre Geschichte aus unserer Sicht erzählen. Wir haben viel recherchiert und sehr viele Bücher und Artikel über ihr Leben gelesen. Und wir beschäftigen uns mit diesem ganzen Rechercheprozess, der notwendig war, um diesen Text zu schreiben. Und was die Musik betrifft: Wir wollten nicht, dass es zu viel Material von ihr gibt, das explizit zitiert wird. Ich meine, wenn man ihre Musik sehr gut kennt, merkt man das vielleicht, denn es ist nicht so, wie wenn wir zum Beispiel Mozart verwenden würden, wo Zitate vielleicht leichter zu erkennen wären. Aber wir verwenden einen Teil des Klavierzyklus’ Das Jahr, den sie hier in Rom komponiert hat. Wir verwenden also einen Teil ihrer Klaviersprache und versuchen, sie nicht zu kopieren, sondern auf ästhetische Weise zu übersetzen.

 

OE: Wir verwenden auch einen Auszug aus einem Orgelpräludium, das sie für ihre Hochzeit komponiert hat. Es ist ein Präludium in G-Dur. Nichts Besonderes. Aber es ist trotzdem sehr aussagekräftig, es gibt sogar eine Quelle, es ist ein Brief von ihr, in dem steht, dass sie es genau am Tag ihrer Hochzeit komponiert hat. Diese Musik könnte tatsächlich in Berlin gespielt worden sein, in dieser Kirche am Alexanderplatz, ich glaube, es war in dieser sehr alten Kirche, die den Krieg überstanden hat.

 

BM: Sie war eigentlich sehr wütend, weil sie ihren Bruder gebeten hatte, das für sie zu tun. Aber er konnte nicht, wir wissen nicht warum, also musste sie sich das Präludium noch Morgen der Hochzeit selber ausdenken. Es ist also sehr einfach, aber für uns sehr »Fanny«.

 

OE: Ja. Weil es über das tägliche Leben spricht. Und ich denke, was wir dekonstruieren wollen, ist diese Großschreibung in der Geschichte. Unser Zyklus handelt immer von winzigen Details, nicht nur aus dem Leben von Fanny Mendelssohn, sondern aller Frauen, die in unserer Dramaturgie vorkommen. Wir sprechen über Wäsche, wir sprechen über die Bestellung eines Döners. Wir sprechen über, Du weißt schon, scheinbar bedeutungslose Momente.

 

MZ: Würdet Ihr sagen, dass es untergründige Beziehungen zwischen der Lebenserfahrung von damals und der Lebenserfahrung von heute gibt. Oder seht ihr da eher Veränderungen?

 

OE: Für uns ist sehr wichtig, dass wir eine Art Wohnzimmer erschaffenes handelt sich also um Wohnzimmermusik –, das hypertechnologisiert ist und viele Spiegel hat. Jeder im Raum wird also von Überwachungskameras beobachtetfiktiv oder nicht fiktiv, das wollen wir nicht verraten. Und es gibt immer viele Ebenen der Darstellung der Realität. In dem Moment also, in dem du einige winzige Klänge auf dem Klavier verstärkst und gleichzeitig das Video nutzt, um diese zu konzeptualisieren und in einem bestimmten Moment der Geschichte zu verorten, fügst du einige andere elektronische Fragmente hinzu und sagst: »Das ist es, was Fanny Mendelssohn in diesem ganz bestimmten Moment hörte«…und indem wir all das einander gegenüberstellen, schaffen wir diese Illusion von flacher Zeit, von Präsentismus. Wir berühren wirklich die Geschichte. Und ich denke, der ganze Zyklus ist voll von solchen Momenten und voller Bedeutung. Deshalb ist die Live-Elektronik auch so wichtig für uns.

 

BM: Ja, auf diese Weise sind wir wirklich mit unserer Vergangenheit verbunden. Und ich meine, dass es heute natürlich nicht mehr dasselbe ist. Ich kann also nicht sagen, dass wir an demselben Punkt sind, an dem Fanny war, natürlich nicht. Aber wir haben immer noch so viele Probleme oder Fragen, die wir lösen müssen. Und es dauert länger, als es in unserer Geschichte der Fall hätte sein sollen. Also ja, wir werden darauf hinweisen, ich denke, das wird man bemerken.

 

OE: Ich meine, wenn wir über die Repräsentanz von Frauen sprechen, ist es ja offensichtlich, da es uns selbst schon oft passiert ist. Es ist schon oft passiert, dass wir die richtigen Informationen mit allen Namen an jemanden geschickt haben und am Ende war Belenishs Name plötzlich nicht mehr da. So etwas kommt wirklich vor. Natürlich wollen wir darüber kein Manifest schreiben, aber es ist… ja, wir müssen darüber reden!

 

BM: Auch wenn wir sehen können, wie viele Komponistinnen es heute in unseren Konzertsälen gibtaber das sind nur Zahlen. Ich spreche nicht von irgendwelchen Gefühlen, denn es ist völlig offensichtlich. Wir müssen also darüber nachdenken, und wir brauchen einen Bezugspunkt, denn vielleicht ist es bei Fanny so gewesen, dass sie sich manchmal, wenn sie die Unterstützung anderer Frauen oder auch Männer gehabt hätte, vielleicht als echte Komponistin hätte vorstellen können. Aber sie konnte es nicht, vor allem wegen ihres Vaters, der entschied, dass das nichts für Frauen sei und schon gar nicht für Frauen mit so viel Geld… »Du brauchst nicht zu arbeiten. Das muß nur dein Bruder!«. Wenn es für ihr gesamtes Umfeld nichts wirklich Sinnvolles war, wenn sie nichts würde sagen können, zur Geschichte nichts mehr würde beitragen können, warum sollte sie es dann (überhaupt) tun? Ich denke, es ist wirklich wichtig, das zu bedenken und allen Frauen, die eine Karriere als Komponistinnen anstreben, zu sagen, dass wir viel zu sagen haben und viel zu teilen haben. Natürlich müssen wir immer noch für die Gleichberechtigung kämpfen, aber wir sind auf dem Weg dorthin. Es ist also nicht alles schlecht, und wir haben so viele Dinge, über die wir uns freuen können, so dass wir uns nicht mehr als Opfer fühlen müssen. Wir können uns auf dem Weg fühlen, das zu bekommen, was wir verdienen, und mit gutem Grund glauben, dass wir, wenn wir einerseits Kunst schaffen, andererseits aber auch Plattformen und Gespräche, die uns ermutigen, vielleicht in 100 Jahren eine Lösung finden können. Ich hoffe es, ich drücke die Daumen dafür.

 

MZ: Ja, das hoffe ich auch. Eine letzte wichtige Frage ist vielleicht: Wie sind die Formen Eurer Zusammenarbeit? Wer ist für was verantwortlich in dieser sehr komplexen, wunderschönen Partitur, in der gleichzeitig so viele Schichten verschiedener Dingen zu erkennen sind?

 

BM: Danke dir!

 

OE: Der Prozess ist auch sehr komplex. Die Ideen für dieses spezielle Werk kommen von uns beiden. Ganz am Anfang hatten wir Ideen zu sehr vielen Liedern. Also haben wir erst einmal angefangen, aufzuräumen. Wir fingen an, die Säulen des Liederzyklus zu formen, zum Beispiel durch jene drei Lieder, die von Fanny Mendelssohn handeln, und zusammengesetzt unseren Gesamttitel ergeben: The Day, Fanny Mendelssohn, und Died. Das sind also drei Säulen, die sehr historisch orientiert sind. Und dazwischen gibt es einige andere, vielleicht zeitgenössischere Lieder, die von der Situation handeln, die wir schaffen. Auch bei der Erstellung des Textes arbeiten wir beide zusammen. Es ist in etwa 50/50, oder?

 

BM: Natürlich müssen wir für jedes Lied ein Gleichgewicht finden. Manchmal hat man eine sehr gute Idee und fühlt sich mit dem Thema sehr wohl, oder man hat eine musikalische Idee, dann geben wir uns gegenseitig etwas Freiheit. Und dann haben wir ohnehin genug Zeit, um jeden Schritt gemeinsam noch einmal zu überprüfen. Unser Arbeitsprozess ist also ein bisschen….

 

OE: … kompliziert! Es ist schwieriger, weil wir beide mit jeder einzelnen Note einverstanden sein müssen…

 

BM: …und es ist keine schnelle Arbeitsmethode. Wenn man uns also nach unseren Liedern und Stücken fragt, haben wir viel zu sagen, da wir sehr lange über sie nachgedacht haben, manchmal mehr als nötig, um wirklich jedes einzelne Wort und jede einzelne Note zu klären.

 

OE: Nicht zu vergessen ist der tänzerische Teil dieses Stücks! Der ist sehr wichtig, auch für das Lied-Duo lap 51. Es war sehr wichtig, die Performance zu vertanzen und ganz allgemein die Körperaktionen als einen Weg zur Ermächtigung zu choreografieren. Man kann sagen, dass Belenish hier die Expertin in Sachen Choreografie ist. Und es gibt auch ein Momentum, bei dem man wirklich alles aufschreiben muss. Ich schreibe also alles auf. Sie macht eine Menge Skizzen, Fragmente, elektronische Zuspielungen, dann nehme ich sie und schreibe sie auf und versuche, sie unserem Notensetzer zu vermitteln, der uns hilft, die Partituren so klar wie möglich zu gestalten.

 

MZ: Ihr teilt also die gesamte Arbeit. Das ist fantastisch. Das scheint mir ein wunderbares Modell, wie Gesellschaft funktionieren könnte, irgendwie auch funktionieren sollte.

 

BM: Es ist nicht einfach und beansprucht viel Zeit. Ich glaube, wir haben einen Weg gefunden, der sehr lohnend ist, weil wir uns am Ende sehr wohl fühlen und sagen können: Ja, wir haben das getan, was wir tun wollten. Und ich würde für diese Arbeitsweise auch gerne mehr Referenzen haben, denn es ist schwierig. Wenn wir also in Zukunft an einer Hochschule Komponistenpaare haben, oder Leute, die im Tandem arbeiten, könnten wir ihnen als Lehrer vielleicht Werkzeuge an die Hand geben, um das zu tun.

 

OE: Es ist wie die Arbeit im Klavierduo oder im Streichquartett. Es ist ein Mini-Parlament. Es ist eine Mini-Demokratie. Und ich bin zum Beispiel farbenblind. Das bedeutet, dass Belenish in Bezug auf Farben immer… Ich meine, ich vertraue Belenish, weil ich mir selbst nicht trauen kann, was das angeht. Aber in Sachen Design bin ich zum Beispiel besonders gut, vor allem was Lichtdesign betrifft. Wir werden bei dem Konzert auch viele Licht einsetzen. Wir teilen also wirklich den gesamten Prozess, und da wir jedes einzelne Detail so gut wie möglich in den Partituren niederschreiben, ist es für uns sehr einfach, mit der Partitur anzukommen und zu sagen: »Hey, ich habe das geschrieben. Bist Du damit einverstanden?« Wir haben für dieses Projekt eine Art Code entwickelt, weil es anders ist. Aber natürlich ermöglicht es uns andererseits, uns sehr gut zu kennen. Und manchmal, nur manchmal, müssen wir uns nicht so sehr streiten, da wir schon vorher wissen, was der andere denkt.

 

MZ: Ich danke Euch vielmals. Ich freue mich schon sehr auf dieses Projekt.