Yair Klartag (Komponist)
Sa 03.02., 21:30 Uhr
Musikwissenschaftler Markus Zwenzner im Gespräch mit Yair Klartag.
MZ: Ich finde es ziemlich überwältigend, mir Ihre Partitur anzusehen. Sie ist sehr interessant, sehr faszinierend. Aber bevor wir uns mit der Musik beschäftigen, möchte ich Ihnen eine allgemeine Frage stellen, auch auf Wunsch von Christine hin. Und vielleicht ist es sogar eine Standardfrage, die ich allen Komponisten stellen werde, die im nächsten Jahr am Festival beteiligt sind und von mir interviewt werden. Wir leben im Moment wirklich in finsteren Zeiten. Da würde ich Sie gerne fragen, wie Sie als Komponist damit umgehen? Was ist Ihr persönlicher Krisenmodus als Komponist, wenn man so will?
YK: Bei diesem speziellen Stück und in dieser speziellen Situation habe ich das Gefühl, dass dieses Stück diese Frage wirklich auf die Spitze treibt. Dieses Stück in dieser Zeit fertig zu stellen, ist wirklich eine sehr, sehr, sehr seltsame Erfahrung. Ich könnte diese Frage allgemeiner beantworten: Für mich ist die Aktivität des Musik-Machens, mit der Erschaffung abstrakter Welten, mit dem Leben in Fantasieuniversen und dem Spiel dort in gewisser Weise immer eine Art von Aussage. So ist das immer, so ist es für mich. Es ist in gewisser Weise eine Aussage, die besagt: Ich setze mich nicht mit der realen Welt auseinander. Ich lasse mich nicht auf das ein, was die großen Mächte von mir wollen. Und ich entscheide mich dafür, in dieser Welt der abstrakten Beziehungen, inmitten der Klänge zu sein. Und für mich fühlt sich das immer ein bisschen wie ein politisches Statement an, also einfach der Akt des Komponierens im Allgemeinen.
MZ: Das ist eine sehr gute Antwort. Denn ich denke, wir müssen immer wieder zur Seite treten und versuchen, einige alternative Denkweisen und Existenzweisen zu finden. Vielleicht geht es auch um eine Art Utopie, von der wir uns wünschen, dass sie auch in der Realität irgendwie stattfindet oder sich irgendwie auf die Realität auswirkt. Vielleicht, um die Frage noch etwas anders zu stellen: Inwieweit kann das, was Du in Deinem Beruf tust, eine Bereicherung und vielleicht eine Ermutigung für das Publikum sein? Es ist vielleicht die gleiche Frage in einer anderen Form. Aber wie ist Dein Verhältnis zum Publikum in dieser Hinsicht?
YK: Nun, ich denke, es ist immer der Wunsch eines Künstlers… ich denke, der Akt sich auszudrücken entspricht in gewisser Weise dem Wunsch, Menschen in die eigene innere Welt zu bringen. Man drückt etwas aus, damit man es mit anderen Menschen teilen kann. Und wie ich es bereits beschrieben habe, geht es darum, einen Raum zu schaffen, in dem wir die Beziehung zwischen Klängen, die so flüchtige Phänomen sind, die man nicht anfassen kann und die für nichts von Bedeutung sind, wirklich ernst nehmen können. Und allein die Idee, dass wir uns alle zusammen darauf konzentrieren und ihm eine große Bedeutung beimessen können–dass es wirklich wichtig ist, ob dieser Klang so oder so klingt–und das in einer Gemeinschaft: Das ist natürlich ein Traum. Für mich ist es also eine Erweiterung dessen, was ich vorher gesagt habe. Natürlich möchte ich Räume schaffen, aber wenn ich das mit mehr Leuten teilen kann…–das können die Musiker und das Publikum sein, das können Leute sein, die sich im Nachhinein dafür interessieren, manchmal sind es Journalisten oder Musikwissenschaftler–ist es das, wovon ich träume. Es geht also darum, eine Gemeinschaft innerhalb dieses Raums zu schaffen. Für mich ist allein die Existenz dieser Gemeinschaft ein wenig wie ein politisches Statement und auch Widerstand gegen die Dinge, die »da draußen« geschehen. Ich denke, das ist der Wunsch eines jeden Künstlers, oder? Dass sie den Raum mit dem Publikum teilen, sie teilen den Raum mit mir, und sie folgen mir, sie teilen dies Art klangliche und philosophische Ideen mit mir.
MZ: Ich danke dir. Kommen wir nun zu Deinem Stück »Music of the Sefiras«. Der Untertitel erklärt, dass diese abendfüllende Komposition eine Art musikalischer Vortrag über kürzlich entdeckte musikalische und theoretische Manuskripte einer Person namens Moshe Najara ist. Was kannst Du mir über den ideellen Hintergrund Deiner Komposition erzählen? Wie bist Du auf diese Idee gekommen, warum diese Hinwendung zu einem »historiographischen Extrem«, wie Du schreibst, das »in irrationalem Mystizismus aufgeht«?
YK: Ich habe das Gefühl, dass es in meiner Arbeit verschiedene Wege gibt, die mich zu dieser speziellen Idee geführt haben. Einige von ihnen sind eher abstrakt. Einer ist: Ich habe mich immer sehr für Text interessiert und dafür, wie Texte und Bedeutungen funktionieren und wie sie in der Musik wirken. Wie ist die Beziehung zwischen Klang und Text, zwischen Sprache und Klang. Ein Teil meines Interesses rührt also von der Idee her, Text in der Musik nicht als musikalisches Material, sondern als realen Klang zu verwenden. Er hat eine Bedeutung, er sagt etwas aus, aber das alles ist in der Welt des Klangs angesiedelt. Ich war immer ein bisschen neidisch auf bildende Künstler, die sich sehr wohl fühlen, wenn sie Text in ihrer Kunst verwenden. Ich habe das Gefühl, dass wir in der Musik dazu neigen, Text entweder komplett strukturell zu verwenden oder ihn wirklich als musikalisches Material zu nehmen. Und ich fand es immer interessant, die Zwischenräume zu finden. Ich denke, das war die eine Seite, diese Verwendung von Text. Und hier ist es für mich wirklich etwas, das, ich weiß nicht, an der Grenze liegt, weil es ein abstrakter Sound ist. Ich verwende also einen gesprochenen Text, den ich selbst produziert habe. Ich habe dafür generative KI verwendet. Ich habe die Stimme von Gershom Scholem, dem berühmten Kabbala-Forscher, genommen. Und es gab genügend Aufnahmen von ihm, so dass ich seine Stimme tatsächlich nachbilden und neu erschaffen konnte. Es ist also ein Klang, den ich mit generativer KI erzeugt habe. Es ist keine Aufnahme von irgendjemandem. Es ist eine völlig abstrakte Musik. Das ist also die technische Seite der Sache.
Die andere Seite, die eher konzeptionelle Seite, kommt von etwas, das mich wirklich überrascht hat. Ich habe mich immer sehr dagegen gesträubt, mich für diese Art von Dingen zu interessieren, denn ich würde sagen, ich halte mich für einen universellen Komponisten und kümmere mich nicht um meinen Hintergrund und solche Dinge. Aber dann bin ich in letzter Zeit mehr und mehr mit sehr spezifischen und sehr esoterischen Teilen der jüdischen Geschichte in Berührung gekommen, die mich ein wenig an meine Eltern erinnerten, und ich fühlte mich mit einigen Dingen verbunden, die für mich auch sehr relevant sind. Und ich habe mich gefragt, und Es war ziemlich bizarr, wie Rationalismus und Mystik im Judentum behandelt werden. Diese beiden Seiten, diese Extreme, sind in gewissem Sinne beide sehr wichtig für die Geschichte [meines Stücks]. (…) Die Kabbala ist also eine Form der jüdischen Mystik, Leute wie Madonna praktizieren sie und sie ist damit sehr populär. Die rationalistische Seite des Judentums ist wiederum starkvon der neuplatonischen Philosophie beeinflusst. Das waren eigentlich eher Logiker. Sie sind völlig vergessen, nicht völlig vergessen, aber ziemlich vergessen, und als ich all ihre Texte entdeckte, war ich sehr überrascht.
Die mystische Seite war etwas, das mir immer sehr fremd war, denn sie ist sehr, sehr religiös. Ich bin völlig unreligiös. Da geht es um all diese sehr metaphysischen Dinge. Aber mit der Zeit habe ich zufällig angefangen, über die Kabbala und ihre Erfindung zu lesen. Und es ist tatsächlich so: Das ist unser Shakespeare, das ist unser da Vinci. Ich meine, das sind die Juden. Das ist es, was sie getan haben. Und es ist wirklich äußerst kreativ. Die Texte, die ich verwende, stammen aus der Kabbala, und darin stehen Dinge wie »die Welt ist mit einer Linie und einem Kreis erschaffen worden, und das Licht geht [da oder dorthin]…«. Das beinhaltet völlig verrückte Dinge und ist sehr schön, sehr kreativ. Ich entdeckte also diese Seite. Und dann war da auch noch die Geschichte dieses falschen Messias (Sabbatai Zvi), der sich auf einmal zeigte, was in gewisser Weise bis heute in vielerlei Hinsicht sehr relevant ist. Wenn man sich die Geschichte dieser Menschen in dieser Zeit anschaut, ist es ein unglaubliches Leid, ganze Gemeinden, die überall massakriert werden. Genau das ist der Hintergrund für Leute wie Sabbatai Zvi am Ende des 17. Jahrhunderts. Da kamen diese Leute, die behaupteten, sie seien der Messias. Und dieser Sabbatai Zvi, der Ende des 17. Jahrhunderts auftauchte, hatte etwas sehr Interessantes an sich. Er hatte eine sehr interessante Theologie: Jetzt ist also der Messias gekommen, also wird einfach alles umgedreht. Alles, was verboten war, ist nun erlaubt, was erlaubt war, ist verboten. Es gibt keine »Männer« und »Frauen« mehr, dazu viele andere völlig verrückte Dinge, die mich sehr überrascht haben. Das ist ganz anders als die Art und Weise, wie ich normalerweise die Geschichte des Judentums wahrnehme, es gibt da ganz verrückte Dinge. Seine Geschichte ist wirklich sehr verrückt. Drei Jahre, nachdem er sich zum Messias erklärt hatte, wurde er zum türkischen Sultan eingeladen. Und weil [Gaza] Teil des Osmanischen Reiches war, wurde er gezwungen, zum Islam zu konvertieren, und dann konvertierten seine Anhänger ebenfalls mit ihm und blieben im Islam. Sie existieren tatsächlich bis heute in der Türkei, als eine kleine Sekte, die sich Dönme nennt, und sie haben immer noch sehr bizarre Dinge. Zum Beispiel, wenn ich es richtig verstehe, haben sie einen Tag in der Woche, an dem sie ihre Partner tauschen müssen. Und das ist alles Teil dieser Idee von: Alles ist erlaubt. Du musst nicht verheiratet bleiben. Man muss es nicht. Alles ist erlaubt. Für mich hatte es also etwas sehr Anziehendes und Interessantes, dass dies Teil meiner Geschichte war, mit all diesen extremen Rationalisten auf der anderen Seite.
Außerdem hat mich ein Buch von Olga Tokarczuk sehr beeinflusst, die, glaube ich, 2018 den Nobelpreis bekommen hat, und ihr Buch heißt »The Books of Jacob«. Darin wird im Grunde die Geschichte des nächsten Messias erzählt. Auch darüber spreche ich also. Diese Vorstellung von ihm hielt sich ein paar Generationen lang. Und dann, etwa 100 Jahre später, kam dieser verrückte Typ namens Jacob Frank, der noch verrückter war und wirklich extreme Dinge tat. Und dieses Buch von Olga Tokarczuk handelt von ihm. Und ich habe dieses Buch gelesen und war sehr überrascht, wie sie es aus ihrer Perspektive betrachtet hat. Für sie ist es ein bisschen wie die Geschichte des polnischen Volkes. Das waren also alles Dinge, die einfach so im Raum standen.
Und dann hatte ich die Idee, einen Komponisten zu erschaffen. Ich wollte also einen Komponisten erfinden, den es nicht gab, den es aber hätte geben können. Ich dachte, was würde ein Musiker mit all dieser Verrücktheit tun? Welche Art von Musik würde dabei herauskommen? Denn es gab dort keine Musik. Es gab im Allgemeinen niemanden, der Musik geschrieben hat. Es gab überhaupt kaum jüdische Musik in dieser Zeit, und schon gar nicht in dieser Gegend Ägyptens. Und dann wurde ich so etwas wie ein Nerd und fand diesen ganzen historischen Kontext. Und ich weiß nicht wie, aber irgendwie ist diese Geschichte aufgetaucht, und sie hat für mich wirklich viel Sinn ergeben, weil alles dort real ist. Es ist also eine ganze Geschichte, in der alles historische Fakten sind, im Grunde genommen, bis auf diesen einen Typen. Aber dieser Typ, den ich erfunden habe, Moshe Najara, dessen Vater im 17. Jahrhundert tatsächlich in Gaza lebte, stand Nathan von Gaza, der ein Prophet war, sehr nahe. Und als Sabbatai Zvi, der falsche Messias, kam, war er bei ihm zu Hause zu Gast. Es handelt sich also um eine völlig reale Person. Und sein Großvater ist tatsächlich eine ziemlich berühmte Person, ein Dichter. Und man sagt sogar, er sei so etwas wie der Vater der jüdischen Musik, die ein wenig von der osmanischen Musik beeinflusst wurde. Und er hatte tatsächlich diesen auch sehr bizarren Streit mit einer anderen Gruppe von Leuten, die sich mit der mystischen Kabbala beschäftigten. All diese Geschichten sind also wahr. Und ich habe nur eine Person hinzugefügt. Irgendetwas hat mich zu dieser Idee hingezogen: Ich erfinde diese Person und dann kann ich ihre Musik schreiben. Das hat mich auch ein bisschen befreit. So wie dieses Stück am Ende ein bisschen seine Musik ist. Es ist nicht meine Musik. Und dann habe ich ein bisschen Musiktheorie erfunden. Er hat dieses mystische Intervall und er hatte dieses Buch von Kepler, das er zufällig gefunden hat, und das wurde auch Teil seiner Mystik. Es gibt also jeweils die Seite des Erfindens dieser Person und des Erfindens seiner Musik und seiner Ideen. Und etwas, das wirklich wichtig war: Die Musik war ihm gänzlich fremd, er hat also nicht Monteverdi gehört oder Ähnliches. Er wußte gar nichts. Er lebte in diesem Nirgendwo in einer Gemeinschaft, die von der Gesellschaft völlig abgekapselt war. Niemand wollte mit ihm reden, da er ein Anhänger dieser bizarren, mystischen Sekte war und nicht wirklich viel Musik gehört hat. Also muss er selbst erfinden, was Musik ist. Deshalb war es für mich musikalisch sehr interessant, wie er sich z.B. Polyphonie vorstellte. Aber dann hörte er türkische Musik, und er hat diese mystischen Vorstellungen von Zahlen. All das gehört also zusammen.
MZ: Das ist eine Art Forest Gump im musikalischen Sinne. Es ist besonders fantastisch, weil es ein Hyper-Forest Gump ist, da es so viele Aspekte und interessante Facetten dieser Figur gibt.
YK: Vielleicht sollte ich noch auf eine andere Ebene eingehen, die für mich höchst interessant und wichtig ist, nämlich die Ebene des Sprechers. Es gibt also diese andere Figur des Sprechers, die auf Gershom Sholem basiert, der für mich die Seite des Rationalismus repräsentiert: Er ist ein Wissenschaftler, und das Stück beginnt damit, dass er einen Vortrag hält. Das Stück ist also eigentlich eine Art Vorlesung, und es beginnt damit, dass er eine Vorlesung über diese Geschichte hält, die sehr genau ist. Und er arbeitet mit diesem anderen Professor zusammen, um die Musik zu rekonstruieren. Und so fängt es an. Aber dann wird diese Stimme, diese Figur–die wiederum der künstlichen Intelligenz entsprungen ist, sie existiert nicht–nach und nach, während das Stück wächst, Teil der Musik. Aber er wird auch irgendwie immer weniger rational. Am Anfang ist er also so distanziert wie ein Anthropologe. Er sieht sich diese Dinge einfach an. Aber am Ende ist er ganz Teil dieser sehr mystischen Welt, ist von diesen mystischen Ideen völlig eingenommen. Und das ist etwas, was ich bei Gershom Sholem wirklich gefunden habe, der auch, wenn man seine Schriften liest, sehr wissenschaftlich war. Er war befreundet mit Walter Benjamin und all diesen großen Persönlichkeiten, sehr, sehr kultiviert, sehr gelehrt. Aber am Ende seines Lebens sagte er in seinem Tagebuch: Ja, nun, einmal habe er diese Art von kabbalistischer Meditation als Teil der Forschung ausprobiert. Er musste sie ein wenig »ausprobieren«! Für mich war das ein bisschen wie bei Hirnforschern, die nur für die Forschung einmal LSD ausprobieren müssen. Es hat also etwas auf sich mit diesem extremen Rationalismus, nach dem Motto: Du versteckst eigentlich das, was dahinter ist, das Irrationale.
MZ: Wie sieht es denn mit Deinen Strategien aus, die verschiedenen Ausdrucksebenen von Musik und Text, zu kombinieren? Vielleicht kannst du mir ein paar Dinge über die Kompositionsstrategien erzählen, die du da gewählt hast.
YK: Es ist ein wenig so, wie ich schon sagte: Ich habe es als einen Prozess gesehen. Das Stück hat zehn Sätze und die Beziehung ist in jedem Satz anders. Das Stück beginnt mit reiner Musik. Und dann kommt der Vortrag, in dem gesagt wird: Okay, was ihr gerade gehört habt, sind Beispiele dafür, was wir versucht haben zu rekonstruieren. Damit beginnt das Stück einem Vortrag zu gleichen, aber mit einigen seltsamen Klängen. Es gab Teile, in denen ich darüber nachdachte, das Sprechen mit Erweiterungen weißen Rauschens zu mischen, denn die Sprachaufnahme klingt wie eine historische Aufnahme, die generative KI replizierte auch das Rauschen und es klingt wirklich wie etwas aus den 1960er Jahren. Darum ging es also. Und dann gibt es [im weiteren Verlauf] verschiedenerlei Beziehungen. Manchmal reagiert die Musik wirklich auf etwas im Text. Manchmal bleiben beide Sphären völlig getrennt: hier ist die Musik, dort spricht er, wie vorhin beschrieben. Aber im weiteren Verlauf des Stücks gibt es verschiedene Stellen, an denen das Sprechen tatsächlich zur Musik wird. So gibt es zum Beispiel einen Satz, in dem der Sprecher sozusagen zu singen beginnt. Er sagt immerzu »Well«, beginnt jeden Satz mit »Well«. Aber dann werden seine »Wells« zu etwas wie »weeeeeell, und damit plötzlich zu einem musikalischen Element. Es ist wie ein Kontrapunkt zu den Instrumentalparts. Es gibt auch einen Teil, wo die Stimme rückwärts spricht. Ich meine, es gibt verschiedene Dinge, die mit der Stimme des Sprechers passieren, die sozusagen musikalisch werden. Aber dann wird es manchmal wieder distanzierter, wo alles wieder zu einer eher normalen Beziehung von Vortrag mit Hintergrundmusik zurückkehrt.
YK: Am Ende ist es so, als ob er sich einfach dazu entschließt, sich ganz auf diese Art von mystischem Meditationsprozess, der ihn so magisch anzieht, einzulassen. Und das ist völlig real. Das ist ähnlich wie das, was Madonna, glaube ich, macht. Sie verwenden diese Ideen in der Kabbala, die wirklich sehr schön sind. Es geht nur um Buchstaben. Und das erinnert mich manchmal ein bisschen an postmoderne Denker wie Jacques Derrida, die den Text aus der Bedeutung herausnehmen. Und sie stellen eine Menge Dinge an mit Buchstaben und ihren Kombinationen, die mystisch sind, und man liest sie und atmet. Er beginnt damit und kommt nach und nach zu einer regelmäßigeren Art, das zu tun. Dann wird die Musik komplett eins, wird, wie soll ich sagen? Sehr surreal.
MZ: Wenn ich mir also die Partitur ansehe und mir die Musik irgendwie vorstelle, dann ist sie im Grunde ein großes Rätsel, eine faszinierende Sphinx, die irgendwie entschlüsselt werden muss. Du hast es also mit der mystischen Tradition des Judentums zu tun, mit der Kabbala und anderen Dingen, mit all dem, worüber Du mit mir bereits gesprochen hast. Es ist wie ein sehr seltsamer Kosmos, besonders für säkulare Menschen wie mich. Und die Frage ist…
YK: Für mich ist es auch sehr seltsam!
MZ: Ja, das hast du auch gesagt. Das ist ja interessant. Aber ist es in gewisser Weise so, dass Du versuchst, die Zuhörer:innen zu aktivieren, indem Du ihnen Rätsel aufgibt, die sie irgendwie lösen müssen?
YK: Ich glaube, das Stück hat eine Ebene, auf der alles irgendwie da ist, so dass man es einfach anhören kann. Ich möchte die Leute aber auf jeden Fall dazu einladen, weiter zu schauen, tiefer zu blicken. Es ist ein bisschen so, so zumindest mein Gefühl, dass ich die Komponisten in diejenigen einteile, die eifersüchtig auf bildende Künstler sind, und diejenigen, die eifersüchtig auf Autoren oder Schriftsteller sind. Ich gehöre also zu denen, die auf Autoren neidisch sind, und ich habe das Gefühl, dass es zum Beispiel bei Romanen große Erwartungen an die Leser gibt darüber, was sie verstehen müssen, wie sie Lücken füllen, um darüber hinaus zu schauen. Das ist so üblich und so normal. Und ich habe das Gefühl, dass wir [Komponisten] das nie haben. Wir haben Angst, wir gestalten immer alles so, dass es klar ist, dass es leicht zu verdauen ist. Aber mir gefällt die Idee, dass es all diese Zitate gibt, die alle echt sind, aber von seltsamen Orten mit wirklich seltsamen Verbindungen kommen. Und ich glaube, ich wollte diese tiefere Beziehungsebene haben. Es gibt also eine Ebene, der man einfach nur zuhören kann und die funktioniert, aber man kann immer auch nach weiteren Verbindungen suchen, die textlicher Natur sind und hoffentlich, wie Du sagtest, aktivieren. Diese Idee einer Intertextualität und ähnlich komplexer Verweise gibt es auch in der Musik. Also hoffe ich, dass die Leute, wenn sie darüber nachdenken, was im Text passiert, auch darüber nachdenken werden: Okay, was geht in der Musik vor sich? Worauf bezieht sich die Musik? Es gibt eine Menge Dinge in der Musik, das Stück ist sehr umfangreich, für meine Verhältnisse ist es sehr lang, es dauert eine Stunde und enthält viele Querverweise. Obwohl es also ein wenig wie zehn Miniaturen daherkommt, beziehen sie sich alle immer auch aufeinander, und die Dinge kehren wieder oder waren immer schon da. Es gibt z.B. einen türkischen Rhythmus, der hier und da immer wieder auftaucht, aber es wird nie wirklich erklärt. Ich habe Text in der Musik immer so betrachtet, dass ich den Wunsch habe, dass, wenn die Leute den Text ernst nehmen und versuchen, ihn zu verstehen, sich das auch in der Art und Weise widerspiegelt, wie sie die Musik hören, und dass sie ihn genauso ernst nehmen und sagen: Okay, wenn der Text so komplex ist, müssen wir dem Klang die gleiche Aufmerksamkeit schenken. Das Gleiche passiert eben auch dort.
MZ: Du hältst Dich nicht für einen sehr religiösen Menschen, wie Du sagtest. Es ist also in erster Linie ein kulturelles Interesse, auch an dem, was die Religionen für die Menschheit gebracht haben, irgendwie das Beste aus dem Leben zu machen, also auch an den kulturellen Aspekt der Religionen, und das abgesehen von den disruptiven Kräften der Religionen, die wir ja leider in der Welt gerade allenthalben erleben. Vielleicht eine eher prosaische Frage zum Ensemble Recherche: Haben Sie vorher mit den Musiker:innen des Ensembles gearbeitet? Ist es so, dass du dich auch irgendwie an die Art und Weise, wie sie interpretieren und spielen, angepasst hast, gab schon es eine längere Beziehung oder ist es jetzt eine Premiere für dich?
YK: Ich habe eine gewisse Beziehung. Ich meine, dieses Projekt hat eine Menge durchgemacht. Die Idee meines Stücks hat sich auf halbem Wege komplett geändert. Sie waren ziemlich wütend auf mich, weil meine Stückidee sich im Laufe der Covid-Unterbrechungen immer wieder anders entwickelt hat. Aber ich habe eine Beziehung zu ihnen und schon einmal mit ihnen zusammengearbeitet. Ich unterrichte jetzt, und ich habe mit ihnen auch gerade einen Kurs mit meinen Studenten gemacht. Was mir wirklich an ihnen gefiel–und das war auch der Grund, warum ich mit ihnen zusammenarbeiten wollte (es geschah auch auf meine Initiative hin) ist, dass ich das Gefühl habe, dass es ein Ensemble ist, das Geschichte hat. Es gehört nich zu den Ensembles der «jungen und hippen” Art. Sie haben zum Beispiel diese großen Stücke gemacht, sie haben z.B. Griseys »Vortex Temporum« uraufgeführt. Mir gefällt auch, dass jeder von ihnen eine Persönlichkeit ist. Es sind sehr erfahrene musikalische Persönlichkeiten, die eine große Präsenz haben. So empfinde ich das.
YK: Mir gefiel auch die Vorstellung, dass sie an der Grenze zur Kammermusik spielen, also normalerweise ohne Dirigent, und sie in der Lage sind, ziemlich komplexe Dinge zu tun. Es ist also interessant für mich, dass es eine Kammermusikformation ist, aber für Kammermusikverhältnisse bestehend aus einer relativ großen Gruppe von Musikern. Sie pflegen immer noch die Kultur des Kammermusikspiels mit vollem Einsatz. Es ist also nicht wie in einem Orchester zu spielen. Das sind Dinge, die für mich auch wichtig sind.
MZ: Nun, eine letzte Frage, vielleicht haben wir das schon angesprochen, aber ich habe heute einen Radiobeitrag über die reiche Kultur der Gaza-Region gehört, etwa mit der ältesten christlichen Kirche, die sich dort befindet. Die Geschichte dieser Region ist also unermeßlich reich. Ich weiß, dass es eine schwierige Frage ist, aber was empfinden Sie sich über diese Koinzidenz, eine Komposition über eine fiktive Person aus Gaza vollendet zu haben und diese wirklich erschütternden Ereignissen, die man dort zur Zeit erleben muss? Versuchen Sie, nicht daran zu denken, oder wie ist Ihre Haltung dazu?
YK: Also es gibt einen Teil von mir, der ein bisschen Angst hat, dass mein Stück auf diese Seite gezogen wird. Ich meine, ich kann mir eine entsprechende Interpretation nicht vorstellen. Das wäre sehr tragisch für mich. Es war einfach ein Zufall. Ich meine, als ich diese alte Geschichte fand, über Dinge, die damals in Gaza passiert sind, war es interessant für mich, weil es ein Ort ist, der schon immer ein sehr komplexer Ort war. Wir haben in Israel viele solche Landstriche, Jerusalem ist auch ein sehr, sehr, sehr komplizierter Ort. Aber der Gazastreifen hat etwas besonderes an sich, und gerade im letzten Jahrhundert ist es einfach ein sehr seltsamer Ort. Es scheint so, als würden alle schlimmen Dinge auf der Welt dort passieren, also zumindest in den letzten Jahrzehnten. Es war interessant für mich, um ehrlich zu sein, dass ich nicht einmal wusste, dass es dort im siebzehnten Jahrhundert Juden gab. Ich war überrascht, dass es dort jemanden gab. Ich war überrascht, dass es jemanden dort gab. Und auch, wenn ich den Leuten hier die Geschichte erzähle, denkt niemand daran. Es waren Menschen dort. Ich muss zugeben, dass ich irgendwann fast überlegt hätte, diesen Bezug zu entfernen, weil in der gegenwärtigen Situation die Gefahr besteht, dass er zur Hauptsache wird. Es ist aber nur ein Detail in der Geschichte. Ich hoffe einfach, dass der Ort wieder zu diesem multikulturellen Ort wird. Ich glaube, eines der Dinge, die mir wirklich Spaß gemacht haben, war, diese Zitate zu arrangieren, ich habe in jeden Satz ein Zitat von etwas eingebaut. Da war vieles dabei, das einem zeigt, wie international die Welt dort war. Da kam dieser Brite, der eine Geschichte darüber geschrieben hat, dieser calvinistische Priester aus den Niederlanden, der auch gekommen ist und darüber geschrieben hat, sie kamen damals viel herum. Ich habe dann aufgeschnappt, dass die Region einmal Teil des Osmanischen Reiches war und irgendwann auch zu Großsyrien gehörte, und dass es dort ein paar winzige jüdische Gemeinden gab, die miteinander zu ringen hatten, da sie sozusagen verboten waren. Ich meine, es gibt einem auf jeden Fall Hoffnung, dass die Stadt wieder zu einem Ort werden könnte, an dem Menschen aus verschiedenen Ländern irgendwie koexistieren können.
MZ: Interessant, denn was du mir über den Sabbatianismus erzählt hast, erweckte bei mir den Eindruck einer Art positiver Utopie, in der es durch das Aufbrechen, das Durchbrechen von Grenzen viel Fluidität gibt. Vielleicht ist ja es eine positive Vision auch für diese Region, die du mit deiner Musik formulierst.
YK: Ich habe definitiv das Gefühl, dass ich sehr viel Zeit meines Lebens mit diesem Konflikt verbracht habe. Ich meine, dieser israelisch-arabische Konflikt ist dermaßen präsent in meinem Leben! Ich glaube, ich bin bereits mit 14 Jahren zu Demonstrationen gegangen. Es sind also 25 Jahre Kampf gegen die Besatzung, aus allen Richtungen. Und das ist einfach eine schwere Last. Und in gewisser Weise ist da ein Gedanke in meinem Kopf wie: Wir sind im Grunde alle aus dem Nahen Osten, wir sind im Grunde die gleichen Leute. Ich meine, meine Mutter kam aus Tunesien und sprach Arabisch. Diese Trennungen sind so verrückt, es ist verrückt, in solche Extremen zu gehen, wo alles wie… [ringt um Worte] ich weiß es nicht.
MZ: Nun, umso besser kann ich verstehen, dass Du tust, was Du tust, wenn Du ein solches Stück komponierst. Wie Du zu Beginn unseres Gesprächs gesagt hast: Es ist der Versuch, ein alternatives Denken anzustoßen zu dem, was wir im Moment in der Realität erleben. Und diese Idee gefällt mir sehr gut, muss ich sagen. Ich danke Dir vielmals.