Alberto Posadas: Ubi sunt
für 24 Stimmen a cappella im Doppelchor
(2022)Zur Ästhetik
Untersuchungen zum Verhältnis von Musik und Natur, Musik und Mathematik prägen die Arbeit von Alberto Posadas, zugleich die forschende Nähe zu den verwendeten Instrumenten. Er entwickelte das Konzept der »generativen Mikroinstrumentierung«: Aus dem mikroskopisch erfassten Klangmaterial und den teilweise neu entdeckten Spielmöglichkeiten eines Instruments erwächst die musikalische Struktur der Komposition
Ubi sunt
Ubi sunt ist die Inschrift eines Erotemas, eines philosophischen Fragesatzes, woraus im mittelalterlichen Europa ein prominentes literarisches Thema wurde. Sein Ursprung findet sich in der Bibel, im Buch Baruch und gelangte über die lateinische Dichtung in die romanischen Sprachen (u. a. Boethius, 5. Jahrhundert). Die Frage Ubi sunt qui ante nos in hoc mundo fuere? (Wo sind die, die vor uns auf der Welt waren?) adressiert das, was man als eines der letzten Tabus der westlichen Welt bezeichnen kann: Tod und Vergänglichkeit und deren Bedeutung in Hinblick auf die Transzendenz des Lebens.
Wohlfahrtsgesellschaften versuchen, nicht über den Tod zu reden oder präsentieren ihn in versüßenden und distanzierten Worten. Im Hochmittelalter, als das Erotema, die Frage, ein wichtiges literarisches Motiv wurde, gehörte die Beschäftigung mit dem Tod zum täglichen Leben und war von gesellschaftlicher und nicht nur persönlicher Dimension. Phänomene wie die Pest hatten einen enormen Einfluss darauf. Die aktuelle Pandemie hat uns in eine Situation geführt, in der wir uns vielleicht nur am Rande–vielleicht nicht nur–damit auseinandersetzen müssen, dass unsere Wirklichkeit es sich nicht mehr leisten kann, Tabus weiter aufrecht zu erhalten.
Die Pandemie hatte so auch einen enormen Einfluss auf diese Komposition. Ubi sunt qui ante nos in hoc mundo fuere? ist eine Frage, mit der die Anderen zu einem Alter Ego unserer selbst werden und sich die Vergangenheit in der Gegenwart und Zukunft wiederfindet. Und tatsächlich fragen wir, wenn wir nach denen fragen, die vor uns waren, auch danach, wo wir sein werden, wenn wir nicht mehr sein werden. Es ist eine Frage zu unserem eigenen Tod und unsere Transzendenz, die unbeantwortet bleibt.
Die für dieses Chorwerk ausgewählten Texte sind überlieferte Ubi sunt-Fragen, Gedichte von Novalis, Stefan George und Meister Eckhart, Verse aus dem Markusevangelium, eine Inschrift auf der Krypta von Santa Maria della Concezione dei Capuccini in Rom sowie Texte, die für diese Komposition geschrieben wurden.
Die 24 Stimmen werden in zwei Chöre geteilt, die symmetrisch auf der Bühne platziert sind. Das ermöglicht, verschiedene Beziehungen zwischen ihnen herzustellen, die von einer Einheit bis zu 24-teiligen Abschnitten reichen. Dabei verschiebt sich der Klang, einer räumlichen Stereophonie gleich, kreisförmig oder als Kontrast zwischen dem Register der weiblichen und männlichen Stimmen.
Mit diesem Stück versuche ich, eine Brücke zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit zu bauen, so wie es die Ubi sunt-Frage tut. Die Verbindung mit der Vergangenheit ist dabei nicht nur rein ästhetischer Natur. Ganz konkret bezieht sie sich auch auf Formen und Aspekte der Vokalmusik, wie sie im Repertoire der mittelalterlichen Musik gefunden werden können: in Antiphonen, begleiteten Rezitativen, Ritornellen, in der Polytextualität, bei der sich verschiedene Sprachen überlappen (hier: Deutsch, Spanisch, Italienisch und Englisch), oder in Psalmodien.
(Alberto Posadas)