Alberto Posadas: Königsberger Klavierkonzert
Es gibt drei Daten, die für die Komposition dieses Konzerts für Klavier und Orchester eine besondere Bedeutung haben:
– 2013 begann ich eine enge Zusammenarbeit mit dem Pianisten Florian Hölscher, für den ich einen Zyklus von sechs Werken für Klavier solo mit dem Titel Erinnerungsspuren geschrieben habe.
– 1965 schrieb Giacinto Scelsi Anahit, ein lyrisches Gedicht, das der Venus gewidmet ist. Als ich dieses Werk für Violine und 18 Instrumente zum ersten Mal hörte, war ich stark beeindruckt von der Kühnheit, mit der er die Beziehung zwischen Solist und Tutti gestaltete. Diese Beziehung ergab sich aus dem musikalischen Material und nicht aus einer vorher festgelegten Struktur.
– Im Jahr 1736 löste der Schweizer Mathematiker Leonhard Euler ein Problem, das ihm der Bürgermeister der Stadt Königsberg gestellt hatte. Es ging darum, die vier Stadtteile, die durch den Fluss Pregel voneinander getrennt sind, miteinander zu verbinden, indem jede der sieben Brücken nur einmal überquert wird und man am Ende zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Das Problem war nicht lösbar. Aber dank dieser Tatsache und der Verallgemeinerung der negativen Lösung entwickelte Euler die Graphentheorie, die zur ersten Grundlage der mathematischen Topologie wurde. Die Verwendung von sogenannten Eulerschen Schaltkreisen ist eine der kompositorischen Grundlagen dieses Konzerts.
Das Königsberger Klavierkonzert besteht aus drei Sätzen:
– Zyklen
–Ritual–Discantus–Choral
– Finale
Im ersten und letzten Satz wird das Klavier konsequent auf den Tasten, im zweiten Satz auch im Inneren des Instruments gespielt. Im ersten Satz wurden in Anlehnung an die Graphentheorie einige »Eulersche Kreise« geschaffen, die dazu dienten, die Abfolge der Materialien und ihre zeitliche Verteilung zu konfigurieren und die Beziehungen zwischen dem Solisten und dem Orchester zu regeln. Dabei geht es immer darum, nicht-dialektische Beziehungen zu erforschen, ohne auf Abwechslung zu verzichten.
Im zweiten Satz verliert das Klavier fast gänzlich seine solistische Identität, es wird von Reminiszenzen an die Virtuosität des 19. Jahrhunderts befreit und eher Teil eines kammermusikalischen Konzepts. Dieser Satz beginnt mit einem Ritual, in dem eine einschneidende Geste perkussiver Natur zum Auslöser für »virtuelle Resonanzen« wird. Es folgt ein Diskant über eine unterirdische gregorianische Melodie (Media vita), die bereits, wenn auch etwas versteckt, im ersten Satz aufgetaucht war. Er mündet schließlich in eine Art Choral, der durch topologische Transformationen eines Ausgangsakkordes entsteht.
Im dritten Satz erscheinen zwei Kadenzen des Solisten über einem statischen Klang des Orchesters. Hier kehren wir im Bezug auf Harmonik und Tonhöhenverteilung zur Verwendung von Eulerschen Kreisen zurück. Der Solopart entwickelt sich von einer clavecinistischen Idee zu einem verdichteten, gestischen Klang und durchläuft Momente von extremer polyphoner Komplexität. Die drei Sätze stellen zwar drei sehr gegensätzliche Klangwelten dar, sind aber miteinander verbunden, ähnlich, wie Eulersche Kreisläufe Knotenpunkte miteinander verbinden.
Das Orchester ist weit davon entfernt, nur Begleitung des Solisten oder eine bloße Replik zu sein. Häufig geht eines von beiden, Solopart oder Orchester, aus dem anderen hervor, mal verstärkend, mal unterstreichend, mal gleitend, mal widersprechend. Das Konzert entsteht aus dem Nach- denken über die verschiedenen Formen der Beziehung zwischen dem Solisten und dem Tutti–und damit über die Beziehung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft.
(Alberto Posadas)