One line

Alberto Posadas: Poética del camino

für sechs Stimmen und zehn Instrumente

((20182020))

In den letzten Jahren beschäftige ich mich intensiv mit der Komposition von Zyklen über existentielle Fragendabei geht es mir mehr um die Suche als um Bestätigungwie in einem Labyrinth, in Räumen, auf Wegen oder in Erinnerungen. In diesem Zyklus verbinde ich deutsche und spanische Poesie, ohne Rücksicht auf geographische, kulturelle oder zeitliche Grenzen. Hier wie dort ist der Weg das Sinnbild eines Lebens, das sich auf den Tod hin verändert. In der »Poetik des Weges« werden die Gedichte von Wilhelm Müller fragmentiert, die Schubert in seiner Winterreise verwendet hat. Sie alternieren mit Gedichten der Spanier Jorge Manrique (15. Jahrhundert) und Antonio Machado (19./20. Jahrhundert), wobei ich nach Berührungspunkten zwischen Ideen, Bildern und Allegorien gesucht habe. Die Dramaturgie dieses Zyklus beschränkt sich nicht auf die Dekonstruktion oder die spielerische Rekonstruktion dieser Gedichte. Es geht zugleich um die »Reise« der Instrumente im Raum. Im Verlauf des Zyklus bewegen sie sich allmählich aufeinander zu, bis sich fast alle auf der Bühne einfinden. Die Spanne der Besetzungen reicht vom Solo für Bassklarinette bis zum Finale für sechs Gesangsstimmen und zehn Instrumente. Die Teile können sowohl zyklisch als auch unabhängig voneinander aufgeführt werden. In Poética del camino begeben sich Instrumente und Stimmen auf unterschiedlichen Wegen auf die Suche nach einer Identität, die sie vermuten, erhoffen oder auch nur flüchtig erspähen. Klang wird vom Objekt zum bewegten Subjekt.

 

In »Tan callando« wandert die Bassklarinette durch eine fragile, mutierte und instabile Welt. Schattenklänge erweitern das Klangspektrum. In Fremd bin ich eingezogen wird die Trompete als ein nicht identifizierbarer Fremder dargestellt und ihr Ton durch ein Saxophonmundstück verändert. Die Singstimmen sind ihr Alter Ego, sie künden von ihrer existentiellen und zugleich vergeblichen Suche und schließlich vom Herannahen des Todes. Auch Jeder Strom, jedes Leiden bezieht sich auf Verse aus der Winterreise. Die zeitweilig mit einem Trompetendämpfer versehene Klarinette, die Oboe und das Cello erzeugen nach und nach einen konstanten Strom, der in diffuse Stille mündet. Im vierten Teil Die Hunde, die Ketten wandert der Klangso wie der Hund in Machados Gedicht. Das einzige, was der Klang beim Versuch, sie zu erinnern festhalten kann, ist das Vergessen. In winzige, flüchtige Elemente zergliedert ist der Klang zugleich Gott und Dämon, strahlender Glanz und finsteres Grab. In Todo pasa lassen die kreisförmig aufgestellten Musiker den Klang im Raum zirkulieren. Das Schlagwerk gibt seine klassische Rolle aufim Vordergrund stehen Vibration und Reibung. Im Raum verteilte Klangquellen folgen verschiedenen Wegen zum selben Ziel: einem temporären Ort. Dort verweilen die Klänge nicht, sondern werden von der Erinnerung des Gesangs verdrängt. Die Gedichtzeile Such’ ich des Wildes Tritt benennt die Idee, die dem sechsten Satz zugrunde liegt. Jedes Instrument hinterlässt einen »Abdruck«, der von einem anderen überlagert wird. Wenn die Instrumente einander auf demselben Pfad folgen, imitieren sie sich jedoch nicht. Vielmehr gestalten sie das Material, das sich in unser Gedächtnis eingeprägt hat, neu. Der Zyklus endet mit dem Satz … Ist Alles zerflossen, der die Idee der sich überlagernden Spuren aus dem vorherigen Satz fortführt. Gesangs- und Instrumentalgruppen sind räumlich getrennt. Wenn eine Gruppe die andere antreibt oder antiphonale Wirkungen erzeugt werden, entstehen neue Beziehungen. Das Bild verschwindender Wege, die keine Wiederkehr erlauben, bestimmt die klangliche Entwicklung und zugleich das Ende des Zyklus.

(Alberto Posadas)

Originalbeitrag zur Uraufführung bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik am 25. April 2020.

 

1 Tan callando für Bassklarinette/7′

2 Fremd bin ich eingezogen für zwei Stimmen und Trompete/6′

3 Jeder Strom, jedes Leiden für Oboe, Klarinette und Violoncello/7′

4 Die Hunde, die Ketten für zwei Stimmen, Flöte, Oboe, Klarinette, Viola und Violoncello/6′

5 Todo pasa für sechs Stimmen, Trompete und Posaune/9′

6 Such’ ich des Wildes Tritt für Flöte, Oboe, Klarinette, Klavier, Schlagzeug, Violine,

Viola und Violoncello/12′

7 … ist Alles zerflossen für sechs Stimmen, Flöte, Oboe, Klarinette, Klavier, Schlagzeug,

Violine, Viola, Violoncello/13′

 

Gesamt-Spieldauer 60‘

 

 

II

Fremd bin ich eingezogen,

Fremd zieh’ ich wieder aus.

Ich such’ im Schnee vergebens

Nach ihrer Tritte Spur,

Muß selbst den Weg mir weisen

In dieser Dunkelheit.

Jeder Strom wird’s Meer gewinnen,

Jedes Leiden auch sein Grab.

Nuestras vidas son los ríos que

van a dar en el mar,

Este mundo es el camino para el otro,

qu’es morada sin pesar;

 

 

VII

Such’ ich des Wildes Tritt

Es zieht ein Mondenschatten

Als mein Gefährte mit,

Eine Straße muß ich gehen,

Die noch Keiner ging zurück

Welch ein törichtes Verlangen,

Treibt mich in die Wüstenein?

Mein Herz ist wie erfroren,

kalt starrt ihr Bild darin

Die kalten Winde bliesen

Mir grad’ ins Angesicht

Und morgen früh ist alles zerflossen

 

IV

Es bellen die Hunde es rasseln die Ketten.

Como perro olvidado que no tiene huella

ni olfato y yerra por los caminos, sin

camino … … así voy yo, siempre buscando

a Dios entre la niebla.

Y era el demonio de mi sueño, el ángel

más hermoso. Brillaban como aceros los

ojos victoriosos, y las sangrientas llamas

de su antorcha alumbraron la honda

cripta del alma.

Es bellen die Hunde es rasseln die Ketten.

 

V

Was soll ich länger weilen,

Daß man mich trieb hinaus.

Was will ich unter den Schläfern säumen,

Soll denn kein Angedenken

Ich nehmen mit von hier?

Todo pasa (y) todo queda,

pero lo nuestro es pasar,

(pasar) haciendo caminos,

caminos sobre la mar

 

 

Texte aus:

Wilhelm Müller: Die Winterreise

Jorge Manrique: Coplas por la muerte de su padre

Antonio Machado: Galerías, Proverbios y cantares

Kompositionsauftrag des WDR und von Musik der Jahrhunderte

finanziert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung