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Samir Odeh-Tamimi: Philoktet

Musiktheater nach den Dramen von Sophokles, Heiner Müller und André Gide

(2022)

Inhalt

Philoktet, ein angesehener Krieger im Gefolge Odysseus‘, wird auf dem Weg zur Eroberung Trojas durch eine Verletzung zum Störfaktor im Heer. Seine Kameraden setzen ihn auf der einsamen Insel Lemnos aus. Nach zehn erfolglosen Jahren im Kampf um Troja erinnern sich die griechischen Krieger wieder an Philoktet und seine von Herakles geerbte »Wunderwaffe«. Philoktet, tief verletzt durch die Aussetzung, hatte sich jedoch geschworen, nie wieder für die Griechen zu kämpfen.

Die Krieger Odysseus und Neoptolemos erreichen Lemnos und wollen Philoktet, der in Elend und Isolation auf der Insel lebt, erneut für den Krieg gegen Troja gewinnen. Vor allem sind sie an seiner Wunderwaffe interessiert. Odysseus‘ listige Strategie geht auf: Durch Lügen erschleicht sich Neoptolemos das Vertrauen Philoktets.

Arglos lädt Philoktet Neoptolemos in seine Höhle ein und überlässt ihm seine Waffe. Philoktets blindes Vertrauen weckt Neoptolemos‘ Zweifel am geplanten Verrat. Er widersteht dem Drängen des Chores, mit dem Bogen zu fliehen, und offenbart Philoktet den geplanten Betrug. Odysseus erscheint und verlangt die Waffe, der zutiefst enttäuschte und verbitterte Philoktet bleibt zurück.

 

Grundlage des Musiktheaters ist das Drama »Philoktetes« von Sophokles. In den griechischen Text sind Passagen aus den Dramen von André Gide und Heiner Müller eingewoben. Durch diese unterschiedlichen Interpretationen erhält der Mythos des Philoktet im Musiktheater eine sehr weit aufgespannte Dimension: Einerseits stellt das Werk die psychologische Betrachtung des Individuums ins Zentrum, geprägt von Verletzung und Zurückweisung, beschäftigt mit eigenem Elend, dem Gestank, der Versehrtheit und dem Schmerz des Ausgestoßenseins. Zugleich wird der politische Kontext beleuchtet und der zynische Pragmatismus einer Gesellschaft, die mit allen Mitteln Pflichterfüllung einfordert und zugleich konfrontiert wird von dem zerstörerischen Potential des verletzten Individuums.

 

Zentrales Element des Musiktheaters ist die Sprache als Ausdruck verschiedener innerer und äußerer menschlicher Zustände. Der griechischen, französischen und deutschen Sprache der zugrundeliegenden Dramen stellt Odeh-Tamimi auch eine Phantasiesprache zur Seite mit melodischen und rhythmischen Elementen alter semitischer Sprachen.

Die Neuen Vocalsolisten haben klare Rollen zugewiesen einschließlich des Chors der griechischen Tragödie. Aber auch die Instrumentalisteninsbesondere der Kontrabassklarinettisthaben szenische Rollen als Alter Egos Philoktets: Durch ihre Bewegungen auf der Bühne werden verschiedene Zustände und körperliche Einschränkungen des Protagonisten assoziiert.

 

Inszeniert als Tableau Vivant, schaffen Samir Odeh-Tamimi und Rosabel Huguet starke Bilder, die die unterschiedlichen menschlichen Zustände nachempfinden. Ein wichtiger Protagonist ist dabei die Natur, vor allem Insekten, die durch Elektronik und Videoprojektion repräsentiert werden, mit Assoziationen des Unangenehmen und der Gefahr, aber auch mit einem philosophisch-transzendentalen und in die Zukunft weisenden Aspekt.

 

 

Der aufrechte Gang und die Macht der Nacht
Zu Samir Odeh-Tamimis Musiktheater Philoktet

 

Im Musiktheater Philoktet gibt es keine Hierarchie zwischen Text, Musik und Bühne. Das Werk ist ein Ganzes, alles ist gleich wichtig. In Philoktet ist Samir Odeh-Tamimi zum ersten Mal sowohl für die Regie, das Bühnenbild als auch für die Musik verantwortlich. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich neben seiner kompositorischen Tätigkeit mit der Malerei und Bildhauerei. So entstanden für Philoktet parallel zu seinen musikalischen Vorüberlegungen auch eine Reihe von Kreidezeichnungen, Radierungen und Skulpturen aus Stein, die Ausgangspunkt für das szenografische Konzept sind.
Die Instrumentalisten sind Alter Egos des Philoktet, jede*r auf eine eigene Art und Weise. Einige wirken wie gefangen, ohne den Ausgang zu finden, andere stellen sich existenzielle Fragen. Eine besondere Rolle spielt die Kontrabassklarinette. Das Instrument wirkt wie ein Anhängsel des Instrumentalisten, wie ein großes, unbewegliches Bein, schwer und steif, aber szenisch sehr präsent. Die Semantik der Bewegung ist in diesem Werk von großer Bedeutung. Eine der Inspirationsquellen bei der Konzeption von Philoktet war eine bestimmte Bewegung: der seltsame aufrechte Gang eines türkischen Jungen, der sein ganzes Leben lang auf allen Vieren gelaufen warein Bild aus einem Dokumentarfilm über die angeborene Behinderung mehrerer Geschwister, die auf allen Vieren gehen und sich durch gutturales Grunzen ausdrücken. Wenn am Ende plötzlich einer der Brüder hinter den Forschern auftaucht, aufrecht stehend, mit einem unbeholfenen, aber stolzen Gang, scheint er zu sagen: »Ich gehe so, wie ich will, obwohl ich auch so gehen kann, wie Ihr geht.«
Samirs Musik verkörpert die ganze Tragödie in einem einzigen Schrei. Ihr Klang ist Geruch und Schmerz, ein Geruch von alter Infektion. Es ist der Geruch von Lügen, von dem Gefühl, ausgenutzt zu sein.
Ein wichtiger Protagonist in Philoktet ist die Natur, genauer gesagt: es sind Insekten, die mit elektronischen Mitteln und durch Videoprojektionen reproduziert werden. Als kleine, oft unscheinbare Tiere, die unangenehme Geräusche erzeugen, rufen Insekten beim Menschen immer eine Reaktion hervor, oft mit negativen Konnotationen: Gefahr, Paranoia, chronisches Misstrauen, Verrat, Gestank. Aber es gibt auch nicht wenige positive Konnotationen, wie philosophische Entdeckungen, transzendentale Erleuchtung (in der Literatur beispielsweise bei Franz Kafka oder Clarice Lispector) und ökologische Nachhaltigkeit, das Versprechen auf Zukunft.

 

 

Die Verse der Tragödie geben einen gewissen Rhythmus vor, und die Sprache, auch wenn es sich um eine Übersetzung ins Neugriechische handelt, ist selbst schon Musik, die bereits den Geschmack, die Ästhetik und die Form der Handlung oder Bewegung verrät, die dieses Musiktheater braucht. Der Text erzeugt eine bezaubernde Wirkung, die zusammen mit der musikalischen Interpretation den Betrachter an einen bestimmten Ort führtan ein Gefühl. Diese Sprache hat eine präzise Muskulatur, die auch die Muskulatur des musikalischen Werkes durchdringt.
Der Text wurde vom Komponisten zum Teil zu einer Fantasiesprache verfremdet, die als ein Amalgam semitischer Sprachen wie Arabisch, Hebräisch und Altaramäisch erscheint. Damit erschließt Samir Odeh-Tamimi der Sprache eine neue klangliche Dimension und überträgt deren melodische und rhythmische Aspekte auf eine rein musikalische Ebene. Gleichzeitig verweist er mit diesem Vorgehen auf weit zurückliegende Wurzeln der altgriechischen Sprache und hinterfragt den weitverbreiteten Mythos von der griechischen Antike als Wiege der europäischen Kultur.
Die Beschäftigung mit Sprache und ihren historischen Dimensionen sowie die damit einhergehende Frage nach kultureller Identität sind für Samir seit jeher eng mit seinem künstlerischen Schaffen verbunden. Das Libretto ist eine Reduktion und Interpretation der antiken Tragödie, verknüpft mit weitergehenden existentiellen Fragen von André Gide und Heiner Müller zu diesem Stoff. Ich habe mit eigenen Sätzen an der Dekonstruktion des Textes von Sophokles mitgewirkt. Dafür habe ich eine spezielle »Entfernungstechnik« benutzt, eine »Überlappung« von mehreren Szenen und eine Umstrukturierung des Verses. Damit wollte ich eine neue Dynamik schaffen. Es handelt sich hier um eine andere Art von Poesie, nicht die der klassischen, sondern von avantgardistischen Versen. Inspiriert hat uns der Kubismus, sowohl literarisch in Bezug auf das Libretto als auch szenisch und musikalisch. Trotzdem gibt es auch viele lange Passagen in der originalen Übersetzung des Sophokles ins Neugriechische von Tassos Rousos.
Vergleichbar mit Samirs Radierungen bei Zeichnungen, kennt auch das Libretto eine Art »Worte-Radierungstechnik«, bis hin zu einem Endpunkt, wenn auch die Stimmen teilweise wegradiert werden.
Zitate von André Gide und Heiner Müller tauchen punktuell an entscheidenden Stellen im Stück auf, aber ihre beiden Versionen der Tragödie sind im Organismus des ganzen Stücks präsent. Man könnte sagen, dass unser Philoktet irgendwo zwischen dem von Gide und dem von Müller liegt. Von Müller haben wir die Bitterkeit, Rauheit, Wahrhaftigkeit, das Wahrnehmungsspiel und den Schluss in das Libretto integriert. Bei Gide reizte mich die psychologische Behandlung der Figuren, ihre Haltung in Bezug auf Identität und Transzendenz. Er sagt »ich werde abstrakt sein«, das heißt ein natürlicher, abstrakter Mensch, ohne Vaterland und Götter, ohne Kunstgriffe und Lügen. Wie die Schauspielerin Elisabeth Vogler in Bergmans Persona: Wenn Philoktet in Gesellschaft lebte, würde er sogar beim Schweigen spüren, dass er lügt (Dies ist in der Tat die raffinierteste Form der Lüge.)
Eine weitere wichtige filmische Inspiration ist The Game von David Finchen aus dem Jahr 1997, in dem der Protagonist, gespielt von Michael Douglas, Opfer einer totalen Verschwörung wird. Das Ganze ist ein brutales Geschenk seines Bruders, der ihm dadurch neue Perspektive eröffnen will.
Es war aufregend, mein erstes und zweites Libretto in Zusammenarbeit mit einem Komponisten zu schreiben, der mit der Operntradition bricht und mit dem ich denselben Geist der kreativen Freiheit teile, der aber gleichzeitig aufmerksam dem Originaltext zuhört und ihm gegenüber eine tiefe Treue bewahrt.
Nach dem Tod der Sonne bei L‘Apocalypse arabe, meiner ersten Arbeit mit Samir Odeh-Tamimi, kommt die Nacht. Nicht als Schlaf, sondern als alternative Welt, in der man Entscheidungsfreiheit findet. Die Nacht ist auch der Moment, in dem das »äußere« Universum zu sehen ist, in dem man weiter blickt. Georg Wilhelm Hegel schreibt in den Jenaer Systementwürfen zu Naturphilosophie und Philosophie des Geistes: »Dies die Nacht, das Innere der Natur, das hier existiertreines Selbst. … hier schießt dann ein blutiger Kopf, dort eine andere weiße Gestalt plötzlich hervor, und verschwinden ebenso. Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blicktin eine Nacht hinein, die furchtbar wird,es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen. In dieser Nacht ist das Seiende zurückgegangenAber die Bewegung dieser Macht ist ebenso gesetzt.« Die Schriftstellerin Etel Adnan kommentiert: »In dieser Obskurität liegt Wildheit«. Und noch ein anderes Zitat von Etel Adnan scheint wie für Philoktet geschaffen: »Ich denke nicht in Worten, sondern in kleinen Steinen. Und sie bleiben mir im Hals stecken.«
(Claudia Pérez Iñesta)