Stefan Keller: Elektras Tanz
für Orchester
(2022)Zur Ästhetik
Mit meiner Musik strebe ich ein möglichst umfassendes Erleben an, das auch die unbewussten, irrationalen und von Emotion geprägten Seiten der menschlichen Existenz umfasst. Eine wichtige Rolle spielen deshalb einerseits die unmittelbar körperliche Wirkung von Rhythmus und Klang, und andererseits die Arbeit mit Musiksprachen, die an Bekanntes anknüpft und in neue Richtungen weiterdenkt. Dieser Fokus auf soziale und emotionale Qualitäten von Musik hat zur Folge, dass ich beim Komponieren nicht allein auf die Neue Musik oder auf die Tradition der europäischen Kunstmusik Bezug nehme, sondern potenziell bei jeder Art von Musik anknüpfe, die zu mir spricht und mich berührt. Dazu zählt, je nach Stück, auch die nordindische klassische Musik, der ich mich durch das Erlernen des Tablaspiels und des Khyal-Gesangs angenähert habe.
(Stefan Keller)
Elektras Tanz
Tanz wird oft als Spiel mit der Schwerkraft beschrieben, deren scheinbare Überwindung oder souveräne Beherrschung angestrebt wird; dementsprechend als Leichtigkeit, ein Ausdruck von Lebenswille und Freude. Mir hingegen geht es in Elektras Tanz um eine paradoxe Gleichzeitigkeit extrem widerstrebender, gegensätzlicher Gefühle und Zustände: eine kaum zu ertragende Schwere, die dennoch ein wiegendes Schweben hervorbringt ein schmerzverzerrtes Nicht-loslassen-Können und ein Gefühl der Ohnmacht, die aber einen gewaltigen Drang und einen Furor erzeugen; eine Zärtlichkeit, die in Aggressivität umschlägt. Die Figur der Elektra, die um ihren ermordeten Vater trauert und von Rachegedanken gegen ihre Mutter besessen ist, symbolisiert einen solchen Extremzustand menschlichen Seins.
(Stefan Keller)