One line

Younghi Pagh-Paan: Wintersonne

für gemischten Chor a cappella

nach Texten von Rose Ausländer

((2013/2018))

Die Komposition stellt Fragen. »Wohin?« heißt es in allen vier Stimmen zu Beginn einer ineinander geschachtelten Aufwärtsbewegung. Younghi Pagh-Paan öffnet den Raum für ihr kurzes Stück nach späten Gedichten von Rose Ausländer. Es geht um eine poetische Standortbestimmung, um zeitliche Dimensionen und einen Traum, den die Wintersonne erwärmt: Wir träumen, »die Welt sei eine helle Seele«. Es geht um Perspektiven. Der (ursprünglich für ein semiprofessionelles Ensemble gedachte) Chorsatz geht von Schlichtheit und traditionellen Formelementen aus, die er aber immer wieder verlässt. Der innere Standort, auch der der Sänger und Sängerinnen, ist womöglich kein dauerhafter, die »Heimat« gibt es nicht. Eher gilt es, immer wieder Blickrichtungen zu finden, Orientierung auch im Ortlosen, Vision im Fragen: »Wohin fliegt meine Angst, meine Liebe?«

(Lydia Jeschke)

 

 

Wohin III

Wohin

sind die

herrenlosen Vögel

gezogen

 

Glaube der

ersten Schwalbe

blau sei blau

 

Wünsche

 

Kein

Zeitstillstand

 

Wann III

Noch ein Tag und

noch ein Jahr

 

Deine Frage

bleibt wach

 

Wann

kommt der Anfang

 

Wann kommst du

zu mir

nimmst du mich mit

 

 

Wintersonne

In der Wintersonne

erwärmt sich dein Traum

die Welt sei eine helle

Seele

 

Vergiß dein Bett

laß deine Gedanken

tanzen

Jeder Augenblick

scheint dir

Ewigkeit

 

Du siehst die Berge das

himmelfarbne Meer

Wälder reden zu dir

 

Alles dir anvertraut

Von der

Wintersonne

 

Heimatlos

Mit meinem Seidenkoffer

reise ich in die Welt

Ein Land nüchtern

eines toll

Die Wahl fällt mir schwer

 

ich bleibe heimatlos

 

Wohin II

Ich haltloser

Elektronenkörper

 

Wohin

fliegt meine Angst

meine Liebe

 

Im rotierenden

Raum

 

Rose Ausländer, aus: »Und preise die kühlende Liebe der Luft«. Gedichte 19831987, S. Fischer 1988 (c) Mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH